Wie weiter?
Bei den Potsdamer Begegnungen in Moskau wurde über die Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen diskutiert
Martin Schulz, der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments und SPD-Vorsitzende, eröffnete die „Potsdamer Begegnungen“, die Ende November in Moskau stattfanden. Es war klar, dass von dieser ersten Rede vieles abhing – sie hätte die Sackgasse in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern konstatieren können – oder aber die Diskussion in Richtung der Suche nach Auswegen lenken: „Wir müssen und können den Weg zu gemeinsamen Positionen finden“, beendete Schulz seine kurze Rede und fügte ein islamisches Sprichwort an: „Es gibt einen Ort jenseits von ‚richtig‘ und ‚falsch‘, und dort werden wir uns treffen.“
Alle äußerten die Hoffnung, dass der Machtwechsel in Deutschland den Ton der Beziehungen zwischen den beiden Ländern irgendwie ändern würde, einer sprach sogar von „Feindschaft, wenn man die heutigen Konzepte und Verteidigungsdoktrinen betrachtet“.
Es wäre unsinnig, die Gefahrenpotentiale der gegenwärtigen Situation mit denen zu Zeiten des Kalten Krieges zu vergleichen, doch einige Redner bezeichneten sie als brisanter, wenn man die unmittelbare militärische Konfrontation zwischen NATO und russischem Militär in Betracht zöge.
Das wahrscheinlich Unbefriedigendste betonte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: „Es wächst die Gefahr der Entfremdung der Nationen.“ An diesen Satz erinnerte dann der einstige Ministerpräsident Brandenburgs und Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums Matthias Platzeck in seiner Rede. Sein Partner bei der Vorbereitung der Potsdamer Begegnungen und Exekutivdirektor der Gortschakow-Stiftung, Leonid Dratschewsky, mochte sich diesem alarmierenden Ton nicht anschließen: „In der Politik vollziehen sich erstaunliche Veränderungen. Erinnern Sie sich, bei unserem letzten Treffen gab es Zweifel an der Fähigkeit der SPD, in den künftigen Bundestag einzuziehen, aber nun haben wir ihren Sieg erlebt, und der Einzug des Vorsitzenden ins Kanzleramt steht bevor.“
Die deutschen Teilnehmer betonten, dass man von der neuen Regierung keine Revolutionen erwarten dürfe. „Ich hoffe auf eine stringente Kontinuität der Interessen und Werte“, sagte der deutsche Botschafter in Moskau, Geza Andreas von Geyr, „insbesondere bei den Themen von beiderseitigem Interesse: schonender Umgang mit Ressourcen, grüne Technologien, Jugendaustausch.“ „Deutschland wird seine politische Verantwortung nicht in Zweifel ziehen und weiterhin den Dialog mit Russland in Politik, Kultur und Sozialem suchen. Aber auch die Situation der Bürgerrechte in Ihrem Land ist für uns wichtig“, ergänzte der Beauftragte für Osteuropa, Kaukasus und Zentralasien des Auswärtigen Amtes, Matthias Lüttenberg.
Nie zuvor wurde auf den Potsdamer Begegnungen so intensiv über den negativen Einfluss der Amerikaner auf die Gestaltung der Beziehungen zwischen Russland und Europa und insbesondere Deutschland diskutiert. Der stellvertretende Sprecher des Föderationsrates, Konstantin Kossatschow, formulierte die russische Position am prägnantesten: „Wir möchten mit unseren europäischen Kollegen reden, ohne dass ihnen die Vereinigten Staaten im Rücken stehen.“
„Die atlantische Ausrichtung Europas bremst unsere Beziehungen“, konstatierte Alexander Dynkin, Präsident des Weltwirtschaftsinstituts IMEMO und Akademiemitglied. „Dort, wo die Amerikaner Interessen haben, zum Beispiel in Fragen der Cybersicherheit, läuft der Dialog nicht schlecht. Deutschland sollte das alles im Blick haben, um nicht ins Hintertreffen zu geraten.“ Übrigens hat das IMEMO ermittelt, dass die USA 104 Sanktionsrunden gegen Russland initiiert haben.
Der Direktor des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexej Gromyko, fügte hinzu, dass Rumänien, die Ukraine und Georgien, die vom US-Verteidigungsminister besucht wurden, in den offiziellen Verlautbarungen des Pentagons als „Frontstaaten“ bezeichnet werden. Stefan Mecha, Generaldirektor des Volkswagen-Konzerns in Russland, berichtete, er habe in Washington Gespräche über eine Abschwächung der Sanktionen gegen den Volkswagen-Partner GAZ-Gruppe geführt: Sowohl Demokraten als auch Republikaner hätten dies versprochen, aber nichts getan.
Von russischer Seite aufgeworfene Fragen zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen blieben weitgehend unbeantwortet, etwa wie die erklärte „strategische Autonomie Europas“ mit der NATO-Mitgliedschaft vereinbar sei.
Der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Energie, Klaus Ernst (Die Linke), räumte ein: „Die Interessen der USA stimmen nicht immer mit den europäischen überein. Dieses Licht leuchtete unter Trump besonders hell, aber auch vor ihm war das schon so. Wir haben doch gesehen, dass die Amerikaner in Sachen weltpolitischer Interessen schon lange ihr eigenes Süppchen kochen.“ Der Abgeordnete äußerte sich auch besorgt über die Konfliktgebiete mit Russland, insbesondere die Krim und die Ostukraine.
Falk Tischendorf, ein in Moskau tätiger westdeutscher Jurist, verwies auf eine besonders schmerzliche Auswirkung der amerikanischen Sanktionen: „Zu einer weiteren Folge der amerikanischen Sanktionen wurde der Vertrauensverlust. Die Deutschen denken: Ja, ich vertraue dem russischen Partner, aber das politische Risiko ist zu groß. Aufgrund der Sanktionen gehen Unternehmer keine langfristigen Projekte ein. Unsere russischen Kollegen denken jetzt immer häufiger: ‚Wir beginnen ein Investitionsprojekt, und morgen treffen uns dann die Schläge der Amerikaner‘.“
In der Tat passt Russland schwerlich in derzeitige gesamteuropäische Strukturen. Doch selbst ausgesprochene Kritiker behaupten nicht, dass für Russland kein Platz in Europa sei – wenngleich schon mal zu hören war, dass man über neue Strukturen nachdenken sollte, wenn die derzeitigen gesamteuropäischen Strukturen nicht gut funktionieren. Bei allem propagandistischen Trommelfeuer sind 62 Prozent der Deutschen für engere Beziehungen zu Russland, ein noch größerer Anteil gegen die amerikanischen Sanktionen gegen Nord Stream 2.
Mehr als die Hälfte der Redner auf dem Potsdamer Forum äußerten sich besorgt über die mögliche Einstellung des Gesprächsforums „Petersburger Dialog“ und beklagten sich über die mangelnde Transparenz der Entscheidung der russischen Behörden, drei deutsche NGOs auszuschließen, sowie über das komplizierte und unausgereifte rechtliche Verfahren zur Anfechtung einer solchen Entscheidung. Aber man kommt nicht umhin anzuerkennen, dass deutsche Ressentiments, die Angst vor Medienkritik und die Ächtung seitens grüner Politiker keine Gründe sein sollten, alle Aktivitäten des Forums einzustellen und die Beziehungen zwischen den Arbeitsgruppen aus Historikern, Medizinern, Umweltschützern, Wirtschaftswissenschaftler u.a. zu unterbrechen.
Bleibt zu hoffen, dass diese Überlegungen und Gespräche nicht nutzlos bleiben.
Pavel Aprelev
ist Redakteur der russischen Tageszeitung *Kommersant*.