Wie der Offizier Stanislaw Petrow durch besonnenes Ignorieren von Alarmmeldungen einen Atomkrieg verhinderte
Der Park an der Vestischen Straße macht nicht viel her, der graue Schotterweg durch Oberhausen-Osterfeld verspricht keine Sensationen. Aber genau dort, in Höhe des Hauses Nummer 137, stoßen Spaziergänger am Wegesrand auf ein Stück Weltgeschichte. Seit dem 19. Mai 2019 steht dort eine Gedenktafel, die in drei Sprachen – Deutsch, Englisch und Russisch – an Stanislaw Petrow erinnert: „The man who saved the world“ heißt es auch in der deutschen Version – da der Satz auf Englisch besser klingt, und so ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2014 heißt, der die Lebensgeschichte des Stanislaw Petrow erzählt.
Warum nun ausgerechnet die erste Gedenktafel in Deutschland für einen vor zwei Jahren gestorbenen russischen Offizier in Oberhausen steht – das kann nur Karl Schumacher erklären. Der Mann wohnt 250 Meter weiter die Straße rauf. Ohne den Einsatz des inzwischen 68-Jährigen wäre Stanislaw Petrow vielleicht längst vergessen.
Schumacher und Petrow waren Freunde, und es war dieser Deutsche, der vor zwei Jahren als erster Mensch im Westen die Nachricht vom Tode des Russen erfuhr. Schumacher hatte wie jedes Jahr am 7. September Petrow zum Geburtstag gratulieren wollen. Doch als er in Frjasino nahe Moskau anrief, war nur dessen Sohn Dimitrij dran – der ihm mitteilte, dass der Vater bereits am 19. Mai 2017 verstorben war. Schumacher informierte die Medien und diese verbreiteten die Nachricht vom Tod des Weltenretters in 150 Länder.
Stanislaw Petrow war Karl Schumachers Held. Ein kleiner, hagerer, stets bescheidener Mann sei dieser Russe gewesen, erinnert sich der Deutsche. „Aber er hat Größeres vollbracht als Obama oder Putin“, sagt Schumacher und zieht an seiner Zigarette. Er sitzt in seinem Büro vorm PC, auf dem Monitor klickt er ein privates Foto seines Idols an: „Dieser Mann hat Millionen Menschen gerettet“, sagt der 68-jährige Großvater von acht Enkeln, „wäre dieser Stanislaw Petrow nicht gewesen, wir wären überall gestorben – in Amerika, in Russland, in Europa. Ich auch.“
Schumachers Geschichte ist ein Stück Welt-Historie. Und der Oberhausener kennt jedes Detail aus erster Hand, von Stanislaw Petrow persönlich. Der Russe hat ihm anvertraut wie es zuging in jener Nacht zum 26. September 1983. Da hatte Oberstleutnant Petrow 90 Kilometer südlich von Moskau atomaren Wachdienst in der Bunkeranlage von Serpuchow-15, dem Kontrollzentrum des sowje-tischen Raketenwarnsystems „Oko“. Es war eine der eisigsten Phasen des Kalten Kriegs, nur drei Wochen zuvor hatte ein sowjetischer Abfangjäger eine koreanische Boeing 747 abgeschossen: 269 Tote.
Plötzlich meldet Petrows Computer einen Angriff amerikanischer Atomraketen. „Hätte Petrow das brav an seine Vorgesetzten gemeldet, der Krieg wäre losgegangen“, ist sich Schumacher sicher. Doch Petrow zögerte, vermutete Fehlalarm, weshalb die Apokalypse ausfiel – und 15 Jahre später eine wundersame deutsch-russische Freundschaft begann.
Und deshalb wiederum hat Karl Schumacher, Bestattungsunternehmer a. D., am zweiten Todestag seines Idols am Rand einer Parkwiese in Oberhausen ein kleines Denkmal eingeweiht: „Zur Erinnerung an Stanislaw Petrow“ steht auf der Gedenktafel, daneben sind vier Fotos zu sehen, die Petrow bei einem Besuch im Frühjahr 1999 in Oberhausen zeigen: Beim Anstoß eines Fußballspiels, zu Be-such in einer Schule, als Tourist hoch oben auf dem Oberhausener Gasometer. Ein viertes Bild zeigt die beiden Freunde beim Spaziergang ziemlich genau dort, wo jetzt erinnert wird an den „Mann, der die Welt rettete“.
Sich selbst nennt Karl Schumacher schlicht „den Mann, der Danke sagen wollte.“ Mit diesem Wunsch hatte ja alles angefangen. Am 8. Oktober 1998 las Schumacher zum ersten Mal von Stanislaw Petrow und seiner Heldentat: Eine deutsche Boulevard-Zeitung hatte eine Story aus britischen Medien aufgegriffen und beschrieben, wie „verarmt und traurig“ Petrow in einem Moskauer Vorort- Apartment lebte.
Schumacher, Typ Tatmensch und Dickschädel, beschloss zu handeln. Er recherchierte Petrows Adresse, überredete einen Kumpel mit schwachen Russisch-Kenntnissen zur Mitreise und flog nach Russland. An einem Samstagmorgen im November 1998 klopfte er in einem grauen Wohnsilo von Frjasino 40 Kilometer nordöstlich von Moskau an eine fremde Holztür: „We have come to say thank you!“ Petrow verstand und bat die beiden Fremden hinein: „Come in.“ Es war Freundschaft auf den ersten Blick.
Schumacher lud Petrow nach Deutschland ein. Im April 1999 zeigte er ihm Köln und den Dom, vor allem aber sein Revier: Oberhausens Kaiserpark, den Rhein-Herne-Kanal, den Moviepark in Bottrop. Eben das, was 1983 dank Petrow verschont geblieben war: „Wenn die Russen auf wat zielten, dann doch aufet Ruhrgebiet.“ In dem Bewusstsein, „dass wir im Revier mit all der Industrie die ersten Opfer sind, wenn’s knallt“, sei er als Kind des Kalten Kriegs aufgewachsen.
Petrows Geschichte, nach dem Zerfall der Sowjetunion 1998 von einem russischen General publik gemacht, ging schließlich um die Welt: Die UNO ehrte ihn, San Francisco verlieh ihm 2004 den „World Citizen Award“. Und die Deutschen überreichten dem Ingenieur und Ex-Offizier den „Medienpreis“ (2012) und den „Dresdner Preis (2013).
Die Sowjetunion oder Russland ehrten Petrow nie. Im Gegenteil, seine Vorgesetzten rügten ihn wegen Verstoßes gegen die Vorschriften. In einer Stellungnahme von 2006 räumte Russlands UN-Vertretung zwar den Fehlalarm von 1983 ein, ausgelöst offenbar durch eine seltene Wolken- Konstellation über den US-Atomsilos im Bundesstaat North Dakota. Aber vor einem Atomangriff, so beteuerte Moskau, hätte man sowieso noch andere Informationsquellen geprüft und den Fehler bestimmt bemerkt.
Westliche Sicherheitsexperten hegen da Zweifel, und Schumacher bezeugt, was ihm Petrow mal anvertraut hat: „Den ersten Alarm hat er weitergegeben mit dem Hinweis ‚Vermutlich fehlerhaft‘. Aber dann meldete der Computer noch vier Mal ‚Angriff!‘“
Der deutsche Freund muss tief durchatmen, bevor er die Geschichte zu Ende erzählt: „Petrow hat alle vier Meldungen verschwiegen. Denn er wusste, dass die Generäle losgeschlagen hätten.“
Zu der Einweihung der Gedenktafel am 19. Mai 2019 hatte der Oberhausener Petrows Tochter und Sohn eingeladen. Draußen im Park verkündete Karl Schumacher, was er gelernt habe von Stanislaw Petrow – dass man die Welt nicht Computern und Algorithmen überlassen dürfe. „Wir sind klüger als Computer, denn wir haben sie erschaffen“, habe ihm der Russe gesagt.
Das letzte Wort, so mahnte Schumacher an der Vestischen Straße, müsse stets ein Mensch haben, am besten einer wie sein Freund: „Wir Menschen sind ein Versuch Gottes oder der Natur. Dank Stanislaw Petrow geht dieser Versuch weiter.“
Christian Wernicke
ist der Nordrhein-Westfalen-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.