Donnerstag, 21. November, 2024

Wem gehört die Arktis?

Von Joachim Müller-Jung

Es ist angerichtet. Beeilt euch. Als gäbe es schnell etwas zu verteilen, nichts zu bereuen – so blicken die Mächtigen in diesen Tagen in den Hohen Norden jenseits des Polarkreises. Die Aufheizung der Atmosphäre und der Ozeane, sie hat dort in der Arktis, wo die Sommer stets kurz und kalt und winters kein Handeln und kein Krieg möglich waren, weil die Temperaturen im Keller waren und Stürme peitschten, eine andere, eine ungeheure Dimension: drei bis fünf Grad wird es vermutlich schon Mitte des Jahrhunderts im Schnitt wärmer sein, egal, ob das Pariser Klimaabkommen eingehalten oder gar verschärft würde.

Das Eis schmilzt, und mit ihm endgültig auch die Zurückhaltung der Politik in Ost und West. Donald Trumps jüngst missglückter Versuch, die geostrategischen Machtspiele durch ein „großzügiges“ Kaufangebot für Grönland diplomatisch zu kaschieren, hat der Welt das ganze Drama um die Arktis vor Augen geführt. Die Frage lautet also: Wird ein ökologisch vollends  destabilisiertes Nordpolargebiet demnächst zum Schauplatz eines neuen Kalten Kriegs?

Vieles deutet darauf hin. Und das könnte fatale Rückwirkungen auf den Klimawandel haben. Lange lebten die kaum vier Millionen Menschen jenseits des Polarkreises in einer Art Fernbeziehung zum Rest der Welt. Die nicht einmal 60 000 Grönländer etwa, zu zwei Dritteln indigene Bürger, erreichten weitgehende innenpolitische Autonomie, und auch wenn sie außer von der Hochseefischerei vor allem von den Subventionen der Dänen leben, ist ihr Bestreben nach schneller vollständiger Unabhängigkeit ungebrochen.

Die Arktis-Politik der Anrainerstaaten, die sich Mitte der 1990er-Jahre zum Arktischen Rat zusammenschlossen, ist vordergründig immer noch von dem Wunsch nach Neutralität und Kooperation geprägt. Doch hinter den Kulissen wetzen sie die Messer. Und nicht nur sie. Anfang der 2000er-Jahre schon drängten immer mehr Nichtanrainer, darunter auch tausende Kilometer südlich vom Polarkreis gelegene Staaten wie China, Indien und Brasilien, in den Beobachterstatus, der ihnen zwar kein hoheitliches Mitspracherecht, aber Einfluss vor allem auf die Entscheidungen um die Nutzung der Arktisgebiete ermöglich soll.

Jenseits der 200-Meilen-Zone der Anrainer in Europa, Nordamerika, Asien und Russland, die diese als Wirtschaftszone souverän nutzen können, gibt es zwar einige etablierte multinationale Verträge wie das Seerechtsübereinkommen,  die den Umgang mit Nutzungswünschen und Umweltschutzfragen regeln sollen, doch die Lücken sind erheblich. Anders nämlich als die Antarktis im Süden ist der politische Status von großen Teilen des Nordpolarmeers ungeklärt. Russlands Vorstoß am Nordpol vor mehr als zehn Jahren hat das der ganzen Welt vor Augen geführt.

Völkerrechtlich hatte das auf Video aufgezeichnete Einrammen der russischen Fahne nichts zu bedeuten, doch der damit zum Ausdruck gebrachte Anspruch vor der zuständigen geologischen UN-Fachbehörde auf Erweiterung des russischen Festlandsockels um 1,2 Millionen Quadratkilometer in der Tiefsee jenseits der sibirischen Küstenlinie hat gewirkt: Parallel mit dem Tauen der Gletscher- und Meereisflächen ist der geopolitische Kampf um die nördlichen Ressourcen voll entbrannt.

Stillhalten möchte keiner mehr. Dänemark und Kanada haben ebenfalls Festlandssockelerweiterungen geltend gemacht. Es geht dabei um viel Öl und Gas (geschätzt werden ein Drittel der weltweiten Reserven unter dem Nordpolarmeer), um Zink, Eisen, Kupfer, Nickel, Diamanten und um viele in Smartphones verbauten Seltenen Erden.

Und um Fisch: Die Hälfte davon landet auf europäischen Tellern. Und nicht zuletzt geht es um große polare Handelsrouten und militärstrategische Ziele. Die Nordostpassage zwischen Europa und Asien, wäre sie wirklich wie von Klimaforschern prognostiziert bis Mitte des Jahrhunderts fast ganzjährig eisfrei, könnte die Handelsstrecke um ein Drittel verringern. Für China beispielsweise Grund genug, sich wie seit einigen Jahren in Grönland mit Landkäufen und Investitionen in Häfen, Firmen und Flugplätzen einzukaufen.

Im Mai dieses Jahres platzte dem amerikanischen Außenminister Mike Pompeo bei einem Arktistreffen auf Grönland der Kragen, als er die Chinesen vor der Fortsetzung deren „aggressiver Arktispolitik“ warnte.

Deutschlands Auftritt, das seit vielen Jahren ebenfalls einen festen Beobachterstatus inne hat und auch schon einige große Arktis-Konferenzen ausgetragen hat, ist da auf offener Bühne zwar diplomatischer. Aber von Zurückhaltung kann man kaum noch sprechen.

In den erst vor wenigen Wochen verabschiedeten „Leitlinien deutscher Arktispolitik“ wird ausdrücklich für eine aktivere Rolle geworben: Es gelte, „Chancen zu nutzen“ und „Verantwortung zu übernehmen“. Multilaterialismus – zusammenzusitzen und gemeinsame Lösungen für alle Beteiligten zu finden – bleibt für Berlin das Ideal.

Das gilt zu allererst für die Arktisforschung, in der Deutschland international eine herausragende Stellung hat und sich keine Optionen für die Vernetzung verspielen möchte. Doch der Bundesregierung bereitet es sichtlich Kopfzerbrechen, dass die völkerrechtlichen Lücken und die geostrategischen Händeleien vor allem zwischen China, Russland und den Vereinigten Staaten am Ende die Polarisierung der Welt nur noch schneller vorantreiben und deutsche wie europäische Interessen am Ende den Kürzeren ziehen könnten. Wirtschaftliche Chancen nutzen lautet deshalb die erste Losung, deutsche Meerestechnik müsste in Stellung gebracht werden – „deutschen Unternehmen bieten sich neue Perspektiven“.

Genau vor solchen Perspektiven dürfte der Weltklimarat in seinem in Kürze veröffentlichten Sonderbericht zu den Ozeanen und zur Kryosphäre – den eisbedeckten Erdgebieten – vehement warnen. Denn schon jetzt beschleunigt das wachstumsgetriebene Wirtschaften die ökologische Abwärtsspirale am Polarkreis. Gefährliche Rückkoppelungen können die Region weiter destabilisieren. Rußemissionen verdunkeln die Eisflächen, die dadurch mehr Wärme aufnehmen und das Abschmelzen vorantreiben – zusätzlich zur ohnehin beschleunigten Erwärmung von Luft und Wasser.

Weniger Eis bedeutet aber nicht mehr Stabilität. Im Gegenteil: Das Verschwinden der Eisflächen zerstört die Lebensgrundlagen für Eisbären, Fische und Plankton; Nahrungsnetze werden viel zu schnell zerstört, und die „Wettermaschine“ ganz Europas – nämlich die großräumige Luft- und Meereszirkulation in der Arktis – ist schon in den vergangenen Jahren erheblich aus den gewohnten Mustern gefallen. Schlechtwetterereignisse häufen sich.

Das Abschmelzen des Polareises setzt auch längerfristige globale Veränderungen in Gang – nicht nur den Meeresspiegelanstieg betreffend. Die Ozeanpumpe südlich von Grönland etwa, die „Heizung Europas“, die das vergleichsweise warme Wasser des an der Oberfläche nach Norden strömenden Golfstroms aufnimmt und in die Tiefsee befördert, hat sich schon merklich abgeschwächt. Folge: das globale Förderband der Meeresströme schwächelt viel schneller als erwartet.

Welche Gefahren all das birgt, wird offenbar weder in den Leitlinien deutscher Arktispolitik noch von den Großmächten ernsthaft bedacht. Während Klimapolitiker in diesem Herbst wieder lauthals über das Restbudget möglicher Kohlendioxidemissionen verhandeln werden und auf ein möglichst schnelles Auslaufen des fossilen Zeitalters mit Kohle, Öl und Gas drängen, sitzen paradoxerweise die Aasgeier schon vor den schmelzenden Kadavern der polaren Zeitenwende.

Und wie immer, wenn lukrative Interessen im Spiel sind und die Umweltpolitik marginalisiert werden soll, wird die Sicherheitsfrage am lautesten gestellt. Militärstrategen übernehmen das Wort. Schon immer war die Arktis der einzige Raum, in dem die Großmächte des reichen Nordens direkt aufeinander treffen können, von besonderer militärischer Brisanz. Russland hat mittlerweile Truppen und Waffen im Norden verstärkt, es gibt mehr Militärübungen, die Häfen werden ausgebaut oder erneuert, und die nordamerikanischen Kontrahenten wollen das angeblich nicht unbeantwortet lassen.

Kurzfristig muss das alles nichts bedeuten. Die Bedingungen der Arktis sind immer noch so rau, dass Investitionen und Militärabenteuer für alle Staaten vorerst extrem teuer und riskant bleiben. Aber was die langfristigen Interessen betrifft, gibt es kein Vertun: Da weht der sanften, umweltorientierten Arktispolitik ein scharfer Wind entgegen.

Joachim Müller-Jung
leitet das Ressort Wissenschaft der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Politik & Wirtschaft