Donnerstag, 21. November, 2024

Warum Russen und Deutsche wieder Grenzen überwinden müssen

Von Johann Saathoff

Innerhalb von zwei Wochen fanden die neunten gesamtdeutschen Bundestagswahlen und die Wahlen zur achten russischen Staatsduma statt. Der Blick auf die Wahlen und die Monate davor lässt jedoch leider hervortreten, was uns voneinander trennt: Das vergangene Jahr war gezeichnet von Spannungen auch im bilateralen Verhältnis, bis zum Verbot deutscher NGOs in Russland und dem Aussetzen des Gesprächsforums Petersburger Dialog.

Zum 3. Oktober sollten wir Deutsche aber nicht vergessen: Dass wir in Ost und West gemeinsam und frei wählen konnten, ist nur möglich, weil die sowjetische Führung sich 1989 und 1990 entschied, Deutschland und Europa nicht mehr als geopolitischen Schauplatz eines Interessensgegensatzes zu betrachten. Vielmehr sahen Politiker auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Menschen, die Verantwortung für ihr eigenes Land und Frieden in Europa übernehmen können. Deutschland wurde nach zwei Weltkriegen, die es begonnen hatte, großes Vertrauen entgegengebracht. Dies gründete auf die Erwartung, dass Zusammenarbeit in Europa künftig den Frieden sichert – untermauert durch die Gründung der OSZE.

Heute scheint es, als verlöre diese Hoffnung an Kraft. Immer häufiger werden wieder gegensätzliche Interessen herangezogen, um eine Politik auf der Abgrenzung zu begründen.

Wer die deutsch-russischen Beziehungen so gestalten will, dass sie zu einem friedlichen Europa beitragen, muss weiterdenken. Auch die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr ging von einer verfahren anmutenden geopolitischen Situation aus. Brandt und Bahr wollten diese allerdings überwinden und die Verbindung zwischen den Menschen in Ost und West erhalten. Dasselbe gilt heute in Europa.

Europa steht für Demokratie und damit für das Vertrauen in mündige Bürgerinnen und Bürger. Es steht auch dafür, dass sich Menschen über Grenzen hinweg als Partner sehen. Wir brauchen kein neues Jalta, das die Europäer aufteilt und Interessen abgrenzt. Wir müssen vielmehr die Ideen von Helsinki erneuern: Zusammenarbeit muss trotz aller Interessengegensätze selbstverständlich sein. Das gilt umso mehr, wenn es darum geht, Lösungen für die großen Fragen zu finden: zur Zukunft der Energieversorgung und zum Klimaschutz oder zu Demokratie und Menschenrechten in Zeiten von Pandemie und Digitalisierung.

Nach den Wahlen in Russland und Deutschland sollte die politische Agenda weniger davon bestimmt werden, wie wir uns voneinander abgrenzen. Ob Einreisebeschränkungen oder Gesetze oder Behinderung des Dialogs aus Furcht vor „Einmischung“: Jetzt muss es für Politik und Zivilgesellschaft darum gehen, zu überwinden, was uns trennt.

Johann Saathoff
ist Mitglied des Deutschen Bundestages für die SPD und Koordinator für die zwischenstaatliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.