Von Lissabon bis Wladiwostok
Wolfgang Schüssel über Russland, Europa und die Zukunft der diplomatischen Beziehungen
Dokumentation des Fernsehinterviews mit dem ehemaligen österreichischen Bundeskanzler
Wie schätzen Sie den russischen Präsidenten Wladimir Putin ein?
Ich habe Wladimir Wladimirowitsch Putin einige Male gesehen. Ich habe als damaliger Ratsvorsitzender der Europäischen Union 2006 auch mit ihm gemeinsame Gipfelgespräche geführt. Ich kann mich nicht beschweren, dass Putin das, was er gesagt und was er zugesagt hat, nicht eingehalten hätte. Er ist ein sehr direkter und extrem gut vorbereiteter, qualifizierter, professioneller Politiker.
Hat Präsident Putin Handschlagqualität?
Wir haben viele sehr heikle Themen gut lösen können, und zwar auch überraschend im direkten Gespräch lösen können. Da hat er eigentlich immer Wort gehalten.
Warum kam es zu einer Entfremdung zwischen Russland und dem Westen?
Der entscheidende Punkt ist für mich, dass Präsident Putin am Anfang seiner Amtszeit in den ersten sechs Jahren massiv für eine Öffnung Russlands hin zur Europäischen Union, hin zum Westen eingetreten ist – bis hin eigentlich zu einer möglichen Nato-Mitgliedschaft, einem gemeinsamen europäischen Haus, das von Lissabon bis Wladiwostok reichen könnte.
Welche Ursachen haben die derzeitigen politischen Spannungen?
Warum sich Russland wegbewegt hat, ist bis heute nicht ganz geklärt. War es der Irakkrieg der Amerikaner? War es die Orangene Revolution in Kiew? War es die Sorge oder die Angst vor der Nato-Osterweiterung? – Das ist alles nicht klar. Es kann auch sein, dass eine innere Entfremdung stattgefunden hat und dass sich auch einfach die Dinge in Russland in eine andere Richtung von uns wegbewegt haben.
Welche Fehler wurden, von wem auch immer, gemacht?
Das ist, glaube ich, heute im Nachhinein vergossene Milch. Man sollte jetzt beginnen nachzudenken: Wie können wir den absoluten Tiefpunkt in den bilateralen Beziehungen wieder überwinden? Das scheint mir wichtig zu sein.
Denn geopolitisch sind wir heute in einer Situation, die es eigentlich nicht erlaubt, dass wir fast sprachlos und ohne direkte Kontakte, auch ohne militärische Kontakte miteinander umgehen. Dass etwa die Nato sämtliche russische Diplomaten aus dem Nato-Büro ausgewiesen hat, verstehe ich überhaupt nicht. Jetzt gibt es überhaupt keinen Kontakt mehr. Wir sind kein Nato-Mitglied, aber von außen betrachtet finde ich das seltsam, da mir auch in all diesen Fragen, so schwierig es sein mag, ein Dialog – reden, reden, reden, sich zusammensetzen, um sich auseinandersetzen zu können – extrem wichtig erscheint.
Braucht Europa eine Partnerschaft mit Russland?
Ich denke, dass sowohl Russland eine Partnerschaft mit Europa braucht und auch die Europäische Union sich um eine solche Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe mit Russland bemühen müsste. Dafür gibt es gute Gründe. Erstens, die Nachbarn kann man sich nicht aussuchen. Und Russland ist nun einmal unser Nachbar, das größte Land der Welt mit unglaublichen Ressourcen, mit einer talentierten Bevölkerung. Und auch die Beteiligung Europas zur Bewältigung des Klimawandels wird alleine von der EU nicht zu schaffen sein. Da braucht es wichtige und starke Partner. Dazu könnte Russland viel beitragen durch CO2-Abspeicherung, durch Aufforstung, durch Wasserstoffproduktion und viele andere Dinge mehr.
Will Wladimir Putin 30 Jahre nach Zerfall der Sowjetunion die Einflusssphären wieder herstellen?
Das hat auch damit zu tun, dass der Fall eines solchen Imperiums eben nicht ohne Kollateralschäden und ohne schwere Erdbeben abläuft. Viele dieser damals ausgelösten Konflikte sind ja bis heute spürbar – entweder als eingefrorene Konflikte, nehmen Sie Abchasien, Südossetien, Transnistrien. Zum Beispiel Nagorno-Karabakh ist gerade wieder lebendig geworden als militärischer Konflikt. Die ganze Frage der Krim war damals ein Thema, wurde eher verdrängt, verschoben und ist vor wenigen Jahren, 2014 mit der Annexion der Krim, völkerrechtswidrig wieder aufgeflammt.
Also, das sind Themen, die man sehen muss. Das ist ein Prozess, der in anderen Teilen – die Auflösung Jugoslawiens – zu einem zehnjährigen Krieg geführt hat mit Zehntausenden Toten. Das ist, glaube ich, ein unglaublicher Erfolg dieser Männer von damals. Die verdienen Respekt dafür, dass sie die Auflösung der Sowjetunion ohne militärische Konflikte, ohne Schüsse, ohne hohe Opferzahlen zustande gebracht haben.
Wie könnte eine Annäherung an Russland aussehen?
Ich denke mir, vielleicht könnte gerade der Green Deal, der gemeinsame Kampf gegen den Klimawandel, der gemeinsame Kampf gegen Terror, gegen Cyber-Attacken, das gemeinsame Ringen um eine gute globale Gesundheitspolitik im Fall einer weltweiten Pandemie, vielleicht könnten das Themen sein, die wiederum eine Annäherung bewirken könnten. – Ich gebe die Hoffnung jedenfalls nicht auf.
Das Interview mit Wolfgang Schüssel, Bundeskanzler der Republik Österreich von 2000 bis 2007, wurde am 1. Dezember auf dem Sender Servus TV ausgestrahlt.