Vom Gottesträgervolk bis zum vagen Bündel zerknitterten Unbehagens
Zwischen Faszination und Ablehnung. Dostojewski und die Deutschen
Als das Abendland unterging, leuchtete über Deutschland von Osten her eine neue Sonne auf. Oswald Spengler sah die westliche Zivilisation im Niedergang begriffen und erblickte in Russland den Kulturtyp der Zukunft. Der europäische Rationalismus schien sich in der industriellen Mechanisierung und in kleinteiligem Spezialwissen totzulaufen. Für Spengler war ganz klar Fjodor Dostojewski der kommende Messias, der sich über die sozialen und politischen Querelen der Gegenwart erhebe – Dostojewski wisse gar nicht, was Probleme seien, sondern lebe „schon in der Wirklichkeit einer unmittelbar religiösen Schöpfung“. Apodiktisch meinte Spengler: „Dem Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend.“ Damit wurde Dostojewski zum Künder einer ganzheitlichen Zukunft, die sich deutlich von der zerfallenden Moderne abhob.
Spenglers Dostojewski-Begeisterung spiegelt den deutschen Zeitgeist zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1906 und 1922 gab der Publizist Arthur Moeller van den Bruck im jungen Piper Verlag Dostojewskis sämtliche Werke heraus – mit großem Erfolg. „Die Romane wühlten uns auf“, hielt der Philosoph Hans-Georg Gadamer fest: „Die roten Piper-Bände leuchteten wie Flammenzeichen von jedem Schreibtisch.“ Sein Lehrer Martin Heidegger meinte sogar, dass Dostojewski den modischen Nietzsche an Einfluss übertreffe. Im Jahr 1920 schrieb Heidegger in einem Brief, erst Dostojewski habe ihm klargemacht, was „Heimat“ bedeute. Als Heidegger seine Professur in Freiburg antrat, kümmerte er sich persönlich darum, dass die Universitätsbibliothek Moeller van den Brucks Ausgabe komplett anschaffte. Auf seinem Schreibtisch stellte er sogar ein Porträt des russischen Schriftstellers auf. Für Heidegger stand Dostojewskis Volksbegriff im Vordergrund. So wie Dostojewski sein Schreiben in den Dienst der Selbstbewusstwerdung des russischen „Gottesträgervolks“ stellte, wollte auch Heidegger das deutsche Volk zum wahren Sein führen, nämlich zur bewussten Nachfolge der antiken Griechen.
Bereits Moeller van den Bruck hatte versucht, Dostojewski als Grundlage für eine deutsche Wiedergeburt zu vereinnahmen. In seiner Einleitung zum ersten Band der Werkausgabe schrieb er: „Wir brauchen in Deutschland die voraussetzungslose russische Geistigkeit. Wir brauchen sie als ein Gegengewicht gegen ein Westlertum, dessen Einflüssen auch wir ausgesetzt waren, wie Russland ihnen ausgesetzt gewesen ist, und das auch uns dahin gebracht hat, wohin wir heute gebracht sind.“ In seinem 1923 erschienenen Buch „Das Dritte Reich“ forderte Moeller van den Bruck lautstark eine konservative Revolution in Deutschland, die sich aber auf russische Werte stützen sollte.
Zur selben Zeit kam Bertha Diener-Eckstein, ebenfalls eine Anhängerin der konservativen Revolution, zu einer ganz anderen Einschätzung von Russland im Allgemeinen und Dostojewski im Besonderen. In ihrem schmissig geschriebenen „Idiotenführer durch die russische Literatur“ (1925), den sie unter dem Pseudonym Sir Galahad veröffentlichte, zog sie gegen Dostojewskis Romangestalten vom Leder: „Vage Bündel zerknitterten Unbehagens, liegen sie meist mit offenem Hemdkragen auf dem fleckigen Wachstuch ihres Schlafsofas dahin und treiben Seelenonanie, immer vom Angstschweiß irgendeines Erfürchteten pariahaft verklebt. Immer geldbedürftig, dabei unfähig, welches zu verdienen, bleiben sie dauernd von Erbschaften, Darlehen und anderen Schäbigkeiten abhängig. Ist Gott oder ist Gott nicht?, schreien sie von Zeit zu Zeit einander an.“ Die gesamte russische Literatur könne keinen „griechischem Wohlklang“ erreichen, das Höchste, was sie hervorgebracht habe, sei Puschkins „singendes Negerblut“. Die Oktoberrevolution deutete sie als „jüdische Verführung“ eines kulturlosen Volkes. Ein hehres Vorbild erblickte sie hingegen in der „nordischen Gestaltungskraft“, die sich in den Werken von Selma Lagerlöf, August Strindberg oder Knut Hamsun zeige. Obwohl Bertha Diener-Eckstein und Moeller van den Bruck völlig unterschiedliche Russlandbilder vertraten, waren sie sich in der Ablehnung Hitlers einig: Beide hielten ihn für einen kulturlosen, lärmenden Emporkömmling.
Auch die Nationalsozialisten fochten Flügelkämpfe zwischen Anglophilen und Russophilen aus. Im Gegensatz zu Hitler und Alfred Rosenberg waren die Strasser-Brüder und Joseph Goebbels überzeugt, dass Russland der „von der Natur gegebene Bundesgenosse gegen die teuflische Versuchung und Korruption des Westens“ sei. Sowohl Rosenberg als auch Goebbels äußerten sich ausführlich zu Dostojewski. In seinem Hauptwerk „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1930) deutet Rosenberg Dostojewski als „Vergrößerungsglas der russischen Seele“, die „ungesund, krank und bastardisch“ sei. Dostojewskis Psychologismus sei damit gerade nicht Ausdruck eines „starken Seelentums“, sondern umgekehrt einer „Seelenverkrüppelung“. Ganz anders klingt es bei Goebbels. In seinem Tagebuch preist er Dostojewski als „Propheten einer neuen Welt“. In dem schwülstigen Roman „Michael“ (1927) schreibt Goebbels: „Der Geist Dostojewskis schwebt zukunftsschwanger über dem stillen, träumenden Land. Wenn Russland erwacht, wird die Welt ein nationales Wunder erleben.“ Goebbels liest Dostojewski allerdings gegen den Strich: Er wertet den rebellischen Mörder Raskolnikow aus „Verbrechen und Strafe“ gegenüber dem sanften Fürsten Myschkin aus dem „Idioten“ auf. Raskolnikows Schuldbekenntnis am Ende des Romans wird von Goebbels als Selbstdemontage eines scheiternden Helden gedeutet.
Beispielhaft lassen sich Deutschlands Dostojewski-Trunkenheit, die Ausnüchterung und der anschließende Katzenjammer an Thomas Manns Werk ablesen. In den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) tritt Dostojewski als wichtigste Identifikationsfigur auf. Mann geht sogar so weit, Dostojewskis „Tagebuch eines Schriftstellers“ – die parallele Lektüre zur Arbeit an seinem eigenen Buch – ebenfalls als „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zu bezeichnen. Der junge Thomas Mann entdeckte zwischen sich und Dostojewski eine tiefe Geistesverwandtschaft, die sich gegen die arrivierte westliche Kultur richtete. Im „Zauberberg“ (1924) übernahm er Dostojewskis literarischen Kunstgriff, einzelne Handlungsfiguren als Ideenträger zu porträtieren. Die Romanhandlung folgt nicht einer Chronologie der Ereignisse, sondern erscheint als Kampfplatz verschiedener politischer und religiöser Ideologien. Dostojewskis „apokalyptisch-groteske Leidenswelt“ ist – wie Thomas Mann selbst bezeugt hat – auch im Roman „Doktor Faustus“ (1947) präsent. So baute er den schöpferischen Teufelspakt seines Romanhelden auf dem berühmten Teufelsgespräch in den „Brüdern Karamasow“ auf. In seinen letzten Lebensjahren gestattete sich Thomas Mann die Dostojewski-Lektüre allerdings nur noch „mit Maßen“. Das Dämonische, das den jungen Mann an Dostojewski so fasziniert hatte, wird nun zur Bedrohung seiner eigenen bürgerlichen Künstlerexistenz. Dostojewskis „tiefes, verbrecherisches Heiligenantlitz“ übt eine geheime Faszination auf ihn aus, vor der er sich aber zu hüten weiß.
Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs verflog in Deutschland die Faszination für Dostojewski. Sein Name wurde zum Schimpfwort für eine irrationale Weltdeutung, die nur in den Abgrund führen konnte. Jürgen Habermas machte einen weiten Bogen um den irrlichternden Russen, Heinrich Böll bescheinigte ihm eine „ungeheuer präzise arbeitende kriminelle Phantasie und Zerstörungskraft“, Siegfried Lenz war eingeschüchtert von der „politischen Ein-Mann-Partei, deren Manifest nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Sitzfleisch verlangt“. Erst seit den Neuübersetzungen seiner großen Romane durch Swetlana Geier wird Dostojewski endlich nicht mehr nur als Ideologe, sondern auch als eminenter Wortkünstler wahrgenommen.
Ulrich Schmid
Der Schweizer Ulrich Schmid ist Journalist und Autor. Von 1991 bis 1995 war er Korrespondent der *Neuen Zürcher Zeitung* in Moskau.