Sand in der Röhre: Nord Stream 2 ist zum europäischen Politikum geworden
Den Bau der deutsch-russischen Gaspipeline Nord Stream 2 hatten Berlin und Moskau stets als rein kommerzielles Projekt ohne Hintergedanken präsentiert. Im Europawahlkampf ist es endgültig zum Politikum geworden. Es geht um strategische Interessen, Marktanteile und die Macht in der EU. Polen und Balten befürchten eine zunehmende Abhängigkeit von russischem Gas. Die Ukraine stemmt sich gegen das Projekt, weil sie ihre strategischen Interessen als Transitland für Gas gefährdet sieht. Auch die USA machen Druck – nicht zuletzt, um mehr Flüssiggas von amerikanischen Anbietern in den europäischen Markt zu pressen.
Im April wurde Nord Stream 2 sogar überraschend zu einem Thema im Europa-Wahlkampf. Der konservative deutsche Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) wandte sich in einem Interview mit der Polska Times gegen das Vorhaben. Einen Tag vor dem Start seiner Wahlkampagne in Athen griff Weber, der mit schlechten Werten in den Umfragen zu kämpfen hatte, die Argumente der Osteuropäer auf.
Die Pipeline liege „nicht im EU-Interesse“, erklärte der Mann, der Nachfolger von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker werden möchte. Sollte er an die Spitze der Brüsseler Behörde gewählt werden, so werde er alle möglichen Rechtsmittel gegen Nord Stream 2 einlegen. Damit setzte sich Weber von seiner eigentlich verbündeten Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ab, die den Bau der Pipeline unterstützt und unbeirrt vorantreibt.
Dies hat für Verwirrung gesorgt – nicht nur in Berlin, sondern auch in Brüssel. In der deutschen Hauptstadt stellte sich ein Teil der Regierungspartei CDU hinter Weber, während die Regierung weiter an Nord Stream 2 festhält. In der europäischen Kapitale hingegen wurde die Frage aufgeworfen, warum die EU nicht schon jetzt „alle möglichen Rechtsmittel“ nutzt, um das Projekt zu stoppen.
Kommissionspräsident Juncker hält sich ebenso bedeckt wie der zuständige Energiekommissar Miguel Arias Cañete. Dabei bietet die erst im April verabschiedete europäische Gasrichtlinie im Prinzip durchaus eine Handhabe. Sie legt nunmehr fest, dass auch Gaspipelines aus Drittstaaten wie Nord Stream 2 dem EU-Recht unterliegen. Das heißt, dass Gasproduktion und Netzbetrieb getrennt werden müssen.
Der russische Zulieferer Gazprom wird damit in seinen Rechten beschnitten. Neben der Trennung von Produktion und Betrieb gilt künftig auch eine Transparenzpflicht bei der Preisgestaltung. Zudem muss die Pipeline auch von Dritten nutzbar sein. Allerdings geht der Eingriff aus Brüssel nicht so weit, wie sich dies viele Kritiker in Osteuropa oder im Europaparlament gewünscht hätten.
Für die Kontrolle der Regeln ist nämlich ausgerechnet jenes Land zuständig, in dem die Röhre auf EU-Gebiet stößt: Deutschland. Die EU-Kommission kommt erst bei Streitfällen zum Zug. Zudem sieht die Gasrichtlinie vor, dass Ausnahmen möglich sind – sowohl für bestehende als auch für neue Gasleitungen. Darauf beruft sich nun die Nord Stream 2 AG. Sie fordert eine Sonderregelung.
Nach Angaben der Betreibergesellschaft sind bisher gut 1000 der insgesamt 1230 Kilometer langen Leitung durch die Ostsee verlegt. Bereits Ende 2019 soll Gas durch die knapp zehn Milliarden Euro teure Röhre strömen. Sollte die EU-Kommission diesen Plan durchkreuzen und keine Ausnahmegenehmigung erteilen, so will Nord Stream-Geschäftsführer Matthias Warnig vor Gericht ziehen.
Für die EU-Kommission ist es also gar nicht so leicht, das Projekt noch aufzuhalten. Sollte sie es versuchen, so droht ein jahrelanger Rechtsstreit. „Es kann nicht darum gehen, das Pipelineprojekt zu stoppen“, räumte der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) ein, der früher selbst für die Energiepolitik zuständig war. Allenfalls könne Brüssel noch ein wenig Sand ins Getriebe streuen.
Dies gilt vor allem für Entscheidungen der deutschen Regulierungsbehörde. Was auch immer die Bundesnetzagentur zu Nord Stream 2 festlege, werde „von der EU-Kommission überprüft – und bedarf ihrer Zustimmung“, sagte Oettinger. Er erwarte „noch einige interessante Debatten“, doch grundsätzliche Bedenken habe er keine mehr.
Auch in Berlin glaubt man, dass die Pipeline wie geplant 2020 in Betrieb gehen kann. Der zuständige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) erklärte, er gehe davon aus, dass sie auch unter den neuen Bedingungen – also der EU-Gasrichtlinie – realisiert werden könne. Selbst mit der US-Regierung hat sich Berlin inzwischen verständigt. So sollen neue Flüssiggas-Terminals gebaut werden, um auch Gas aus US-Produktion zu importieren.
Die Einigung wird sogar auf EU-Ebene flankiert. So organisierte Energiekommissar Cañete eine Konferenz in Brüssel, die ausschließlich dem Zweck diente, den Import von amerikanischem Flüssiggas zu erleichtern. Eingeladen waren die Chefs von ExxonMobil, BP oder Total, aber auch US-Energieminister Rick Perry. Schon in den vergangenen Monaten hätten sich die Importe mit einem Plus von 272 Prozent fast verdreifacht, hieß es.
Auch dies spricht dafür, dass die EU im Streit um die Gasimporte eine gütliche Einigung anstrebt. Die USA sollen über die großzügige Förderung von Flüssiggas besänftigt werden, Russlands Gasmonopolist Gazprom wird durch die neue EU-Gasrichtlinie an die Leine gelegt. Zudem wurde der Ukraine zugesichert, dass sie in der brisanten Frage des Gas-Transits weiter auf Unterstützung setzen kann.
Zumindest bis zur Europawahl dürfte dies genügen, um die Gemüter zu beruhigen. Auch Spitzenkandidat Weber kann mit diesem Zwischenstand zufrieden sein. Denn sein Vorstoß hat die gewünschte Wirkung erzielt und für Aufmerksamkeit in Osteuropa gesorgt. Ob sich dies an der Wahlurne auszahlt, steht auf einem anderen Blatt. Im Zweifel dürften die Wähler eher auf Merkel hören – und daraus schließen, dass Nord Stream 2 weiterverfolgt wird, so oder so.
Allerdings hat auch die Kanzlerin in diesem Streit einige Federn lassen müssen. So konnte sie ihre ursprüngliche Argumentation nicht halten, wonach die Gaspipeline völlig unpolitisch sei und die EU nichts angehe. Das „rein kommerzielle“ Projekt hat sich als hoch politisch erwiesen; vor allem Polen und die USA haben es in den neuen kalten Krieg mit Russland hineingezogen.
Das ist ein Dämpfer für Merkel – genau wie die neue Gasrichtlinie. Denn ursprünglich wollte die Kanzlerin die Pipeline am EU-Recht vorbei bauen lassen. Alle Bedenken aus Brüssel wischte sie ungerührt beiseite. Erst als Frankreich protestierte und damit drohte, Deutschland eine Abstimmungsniederlage im Ministerrat zu bescheren, schwenkte die Bundesregierung auf Kompromisskurs ein.
„Die Abhängigkeit vom russischen Gas machte uns Sorgen“, sagte ein Mitarbeiter von Staatschef Emmanuel Macron nach der Einigung. „Deshalb war für uns eine europäische Kontrolle wichtig.“ Die spannende Frage wird nun sein, wie streng diese Kontrolle ausfällt. Die nächste EU-Kommission könnte die Regeln strikter auslegen als bisher. Allerdings kommt sie erst im November ins Amt – und dann dürfte es schon zu spät sein, Nord Stream 2 noch zu stoppen.
Eric Bonse
ist Politologe und Publizist. Er arbeitet als Korrespondent in Brüssel.