Samstag, 21. Dezember, 2024

Russisch Roulette

Von Johann Michael Möller

Die Situation in Russland wenige Tage nach den Parlamentswahlen und die Situation in Deutschland kurz nach der Bundestagswahl ist in nichts wirklich vergleichbar. Und trotzdem gibt es ein paar Ähnlichkeiten, über die nachzudenken lohnt. In beiden Ländern steht die Frage nach grundsätzlichen Veränderungen im Raum, politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich und nicht zuletzt ökologisch. In Russland hat man diese Frage jetzt mit einem brüsken Nein beschieden. Das Regime hat seine Übermacht verteidigt. Da waren alle Mittel recht.

Auch in Deutschland ist die große Rede über die ganz große Transformation im Laufe des Wahlkampfs wieder leiser geworden. Der Ausgang der Wahl hat mehrere Gewinner und mehrere Verlierer hervorgebracht, aber der erdrutschartige Richtungswechsel ist ausgeblieben. Die möglichen Machtoptionen haben sich auf verschiedene mittelgroße Parteien verteilt, und auch die künftige Politik wird das Ergebnis (womöglich) langwieriger Verhandlungen sein. Die globale Welt ist ohnehin viel zu komplex, um sie mit einfachen populären Methoden noch entscheidend beeinflussen zu können. In Russland werden sich die autoritären Strukturen also weiter verfestigen, auch weil das Regime keine Entwicklungsphantasien mehr weckt. Der Status quo ist eingefroren; die Russen kennen sich damit aus. Man sieht das auch daran, wie selbstbezüglich die Opposition geworden ist. Ein überzeugender Gegenentwurf ist nicht mehr erkennbar.

Das scheint in Deutschland anders zu sein. Und die Wahlanalysen sehen schon eine neue, junge, freiheits- und klimabewusste Bürgerlichkeit im Entstehen. Den Wahlsieg aber verdankt die SPD eher denen, die auf Beständigkeit und vertraute Verhältnisse gesetzt haben. Die Wählerwanderung machen das deutlich. Auch in Deutschland könnten sich die hochfliegenden Ankündigungen des Wahlkampfs sehr schnell wieder im grauen Alltag der politischen Verfertigung wiederfinden. So viel Ende gab es in der deutschen Parteienlandschaft lange nicht mehr. Man würde lieber über die Anfänge sprechen. Das gilt auch für das deutsch-russische Verhältnis. Wer jetzt in den Wahlprogrammen nach Aufbruchssignalen sucht, könnte sich täuschen. Die alten Missverständnisse werden bleiben, die Divergenzen auch; und jede Seite wird sich in der Überzeugung einfrieden, dass man sich zwar nicht mehr viel zu sagen hat, aber trotzdem miteinander auskommen möchte. Auch eine elende Situation hat ihre vertrauten Seiten.

Das aber ist der tatsächliche Unterschied zur einstigen Konstellation im Kalten Krieg: dass die globalen Herausforderungen gar keinen Platz mehr lassen für die alte Idee einer politischen Systemkonkurrenz. Die globalen Folgen der Klimaerwärmung, die weltweiten Migrationsprozesse und die dramatische Übernutzung der natürlichen Ressourcen, aber auch die Folgen der Pandemie lassen sich geografisch so wenig einhegen wie ideologisch. Das Auftauen der Permafrostböden ist eben kein russisches Problem, genauso wenig wie die Zerstörung der Tropenwälder ein brasilianisches. Man kann die Suche nach geeigneten Dekarbonisierungsstrategien auf getrennten Wegen probieren; doch am Ende steht eine wesentliche Erkenntnis: Der Ausstieg aus dem Karbonzeitalter lässt sich nur gemeinsam bewerkstelligen, so unterschiedlich die Interessen und Ambitionen immer noch sind. Vom Wandel durch Annäherung hätte man früher gesprochen. Heute geht es um sehr viel mehr. Die Zukunft eines Teils unserer Erde lässt sich nicht mehr ohne den anderen denken. Alles andere wäre Russisch Roulette.