Samstag, 21. Dezember, 2024

Niemand wollte sich vereinigen

Von Leonid Mletschin

Für eine kurze Zeit, zwischen dem Tod Stalins und der endgültigen Machtübernahme Chruschtschows, wollte Lawrenti Beria die beiden deutschen Staaten wiedervereinigen. Die Geschichte ist verwickelt

Im Sommer 1953 begannen in Ost-Berlin Ereignisse, die die DDR in ihren Grundfesten erschütterten: Die mit ihrem Leben unzufriedenen Arbeiter – das Rückgrat der Regierung – revoltierten gegen die kommunistische Regierung!

In Moskau war man alarmiert. Am 2. Juni wurden Walter Ulbricht, Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Otto Grotewohl, Regierungschef, und Manfred Elsner, Mitglied des Politbüros und seit kurzem Leiter der Abteilung Parteischulung, Kultur und Bildung im ZK der SED (der beim Gespräch auch dolmetschte), zu einem bedeutungsvollen Gespräch geladen.

Stalins rätselhafte Note

Die Delegation aus der DDR sah, dass sich nach Stalins Tod große Veränderungen in der Sowjetunion vollzogen. Es gibt keinen Führer mehr, der alle Entscheidungen trifft. Die Mitglieder des Präsidiums des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion betonen ihre Gleichberechtigung, besprechen alles miteinander und streiten.

Das Gespräch war für die Ostdeutschen höchst unangenehm. Der sowjetische Regierungschef Georgi Malenkow berichtete später aus seiner Erinnerung: „Durch falsche Politik sind in der DDR viele Fehler gemacht worden, und es herrscht große Unzufriedenheit in der deutschen Bevölkerung. Die Menschen aus Ostdeutschland haben begonnen, nach Westdeutschland zu fliehen. Wir müssen uns eingestehen, dass das bestehende Regime in der DDR ohne sowjetische Truppen nicht stabil ist. Beria aber schlug vor, den Kurs nicht in Richtung des forcierten Aufbaus des Sozialismus zu korrigieren, sondern jedweden Kurs in Richtung Sozialismus in der DDR aufzugeben und einen Kurs in Richtung bürgerliches Deutschland zu verfolgen.“

Malenkow erhielt Unterstützung vom Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Nikita Chruschtschow: „Beria hat gesagt: ‚Es muss ein neutrales demokratisches Deutschland geschaffen werden.‘ Aber kann ein bürgerliches Deutschland neutral und demokratisch sein? Beria hat gesagt: ‚Wir werden einen Vertrag schließen.‘ Doch was ist dieser Vertrag wert? Wenn ein Vertrag nicht durch Macht gestützt wird, ist er wertlos, man wird uns auslachen, man wird uns für naiv halten. Aber Beria ist nicht naiv, nicht dumm und kein Narr. Er hat sich nicht wie ein Kommunist verhalten, sondern wie ein Provokateur, vielleicht erhielt er Anweisungen von ausländischen Geheimdiensten.“

Es wird allgemein angenommen, dass Beria, Mitglied des Präsidiums des Zentralkomitees, Erster Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR und Innenminister, die Deutsche Demokratische Republik liquidieren wollte. Als Bestätigung wird er folgendermaßen zitiert: „Es ist nicht sinnvoll, den Aufbau des Sozialismus in der DDR zu betreiben. Notwendig ist, dass sich West- und Ostdeutschland zu einem bürgerlichen, friedliebenden Staat vereinigen.“

In der Realität versuchte Lawrenti Beria lediglich, die ambivalente Linie Stalins in der deutschen Frage fortzusetzen. Stalin unterstützte die Losung von der deutschen Einheit in der Erwartung, ein entscheidendes Mitspracherecht bei der Bestimmung des Schicksals des ganzen Landes und den Zugang zu den Industriegebieten in der westlichen Besatzungszone zu behalten. Lange Zeit erlaubte er den ostdeutschen Kommunisten nicht, den Sozialismus aufzubauen, weil er die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, ganz Deutschland kontrollieren zu können.

Am 18. Dezember 1948 forderte Stalin die ostdeutschen Kommunisten auf:

„Wir müssen warten. Die Situation in Deutschland ist schwierig, wir müssen den Weg zum Sozialismus nicht direkt, sondern im Zickzackkurs gehen. Darin liegt die Besonderheit der Aufgabe. Enteignungen sind noch nicht nötig, die Sache ist noch nicht reif. Es besteht auch keine Notwendigkeit für irgendwelche Dekrete, die wie ein direkter Schlag auf den Kopf der kapitalistischen Elemente sind. Ihr werdet euch dadurch selbst schwächen. Auf dem Dorf sollten die Kulaken, die ihre Naturalabgaben leisten, vorerst nicht angetastet werden. Wir müssen uns jetzt auf die Einheit Deutschlands, auf den Friedensvertrag, auf die Senkung der Preise, auf die Erhöhung der Löhne konzentrieren. Das eint ganz Deutschland, und das ist das Wichtigste. Warum schlage ich diese opportunistische Politik vor? Weil ihr noch nicht an der Macht seid und es in Deutschland noch keine Einheit gibt.“ Erst am 7. Oktober 1949 – viereinhalb Monate nach der Gründung der BRD – stimmte er der Gründung einer sozialistischen DDR zu.

Am 10. März 1952 schlug Moskau den Regierungen der USA, Englands und Frankreichs unerwartet die Unterzeichnung eines Friedensvertrags vor, der mit einer gemeinsam zu bildenden gesamtdeutschen Regierung zu vereinbaren sei. Die entsprechende sowjetische Note vom 10. März, die gemeinhin als Stalin-Note bezeichnet wird, wurde vom Ersten Stellvertretenden Außenminister Gromyko dem amerikanischen, britischen und französischen Botschafter in Moskau überreicht.

Was genau wurde angeboten? Andrej Gromyko erläuterte: Deutschland solle als vereinigter, unabhängiger, demokratischer, neutraler und friedliebender Staat wiederhergestellt werden. Alle Besatzungstruppen werden abgezogen. Deutschland erhält sogar das Recht, eine eigene Armee aufzustellen. Allerdings unter einer Bedingung: „Deutschland verpflichtet sich, keiner Koalition oder Militärbündnis beizutreten, das gegen eine Macht gerichtet ist, die sich mit ihren Streitkräften am Krieg gegen Deutschland beteiligt hat.“

Der Vorschlag, gesamtdeutsche Wahlen abzuhalten und ein vereintes, neutrales, entmilitarisiertes Deutschland zu schaffen, war ein Versuch, die Eingliederung der BRD in den militärisch-politischen Block des Westens zu verhindern. Der Vorschlag hätte das Ende der Nato bedeutet. Die in Westdeutschland stationierten amerikanischen Truppen hätten nach Hause gehen müssen. Doch die Westeuropäer wollten, dass die amerikanischen Soldaten auf dem Kontinent bleiben und ihre Sicherheit garantieren. Und die BRD wurde in die Nato aufgenommen, damit sie keine Gefahr mehr für ihre Nachbarn darstellte. Dieser Gedanke hat auch später die Politiker der Alten Welt nie verlassen: Die Nato hält Deutschland in einem engen Korsett.

Niemand wollte sich vereinigen

Im Juni 1953 übergab Beria den Deutschen ein Dokument über Maßnahmen zur Verbesserung der Lage in der Deutschen Demokratischen Republik. Es wurde unter anderem empfohlen, die Beziehungen zur BRD zu verbessern und auf die Schaffung eines geeinten, demokratischen und neutralen Deutschlands hinzuarbeiten. In Wirklichkeit war die DDR-Führung jedoch überhaupt nicht an der Wiedervereinigung Deutschlands interessiert. Während die einfachen Deutschen kaum eine Vorstellung davon hatten, warum sie in einem geteilten Land lebten und sich nicht mit dem Gedanken abfinden konnten, ihre Verwandten und Freunde bald nicht mehr sehen zu können, war das Establishment auf beiden Seiten der Interzonengrenze überwiegend gegen die Wiedervereinigung.

Auch für den ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, war die deutsche Wiedervereinigung nicht so wichtig. Aus einem verständlichen Grund. Er sah nicht, wie Sozialismus und Kapitalismus vereinigt werden könnten. Die Idee eines Einheitsstaates begeisterte bei Weitem nicht alle. In West-Berlin gab es sogar ein Kabarett, das ein Spottlied mit dem Titel „Wiedervereinigung“ zum Besten gab, in dem jede Strophe mit den Worten endete:

„In Bonn spricht jeder über sie,

doch niemand will sie wirklich.“

Die Führer im Osten wollten erst recht keine Einigung. In einem vereinten Deutschland wären sie verloren gewesen; sie wollten ihren eigenen Staat behalten. Der sowjetische Hochkommissar in Deutschland, Wladimir Semjonow, schrieb in seinem Tagebuch: „Ich habe erfahren, dass Molotow gegen die Ausdehnung der Verpflichtungen des Warschauer Vertrages auf die DDR war. Darin erinnerte er an Stalin, der die DDR als Kampfmittel nutzen wollte, sich aber nicht sicher war, ob er diese Position würde halten können. Beria verfolgte also die gleiche Linie, wollte sie aber erst im Sommer 1953 mit Nachdruck umsetzen. Und genau daran ist er gescheitert. Und für mich war es eine Frage des Lebens. Jetzt sind auch die Linien deutlicher, die von Beria über die KGB-Leute in der DDR zur Liquidierung der DDR führen (‚Im Namen der höheren Interessen des Sozialismus‘) Das wäre eine Katastrophe gewesen!“

Was machten die Abgesandten Berias in Berlin?

Der Arbeiteraufstand in Ost-Berlin erschreckte Moskau. Die sowjetische Führung befürchtete, dass der Westen den Aufstand nutzen und einen Krieg beginnen würde. „In meinem großen Büro, in dem man Fußball spielen konnte“, so Semjonow in seinem Tagebuch, „saßen der Oberbefehlshaber Gretschko und der Vertreter des Präsidiums des Zentralkomitees, Marschall Sokolowski. Das Telefon klingelte unaufhörlich. Ein paar Mal rief Chruschtschow an, häufiger Molotow und andere. Chruschtschow glaubte, dass der ‚Tag X‘ nahte, an dem der Westen versuchen würde, die Stärke der Sowjetmacht nach Stalins Tod mit dem Bajonett auszuloten. Daher beschlossen Chruschtschow und das Präsidium des Zentralkomitees, die Unruhen gewaltsam niederzuschlagen. Und im Falle von Komplikationen an der Grenze zur BRD eine Gegenoffensive zum Pas-de-Calais zu starten.““

Am 17. Juni, dem dramatischsten Tag des Aufstandes, rief Beria Semjonow in Berlin an. Der Hörer wurde vom Adjutanten des Hochkommissars abgenommen.

„Ich bin es“, sagte Beria.

Semjonows Adjutant erkannte ihn nicht:

„Entschuldigen Sie, ich habe nicht verstanden.“

„Ich bin es, ich, Beria“, bellte der Innenminister. „Wo ist Semjonow?“

„ Er ist in die Stadt gefahren.“

„In einer solchen Zeit sollte man an Ort und Stelle sitzen und nicht durch die Stadt fahren! Und warum spart Semjonow Patronen?“

Moskau wollte, dass Beria selbst für Ordnung in Berlin sorgt. Er schickte eine Task Force von Staatssicherheitsoffizieren unter Leitung des Chefs der militärischen Spionageabwehr, Generaloberst Sergej Goglidse, nach Ost-Berlin. Generalleutnant Amayak Kobulow, einst Aufklärer des Auslandsgeheimdienstes im nationalsozialistischen Berlin, war ebenfalls Mitglied der Gruppe.

Generalleutnant Kobulow erzählte später: „Am 19. Juni flogen wir morgens nach Berlin, und zwei Tage später fuhr ich nach Halle, Leipzig und Dresden, wo ich zwei illegale Radiosender beschlagnahmte, die im Auftrag der Amerikaner arbeiteten.“ Berias Adjutanten bildeten operative Untersuchungsgruppen, die herausfinden sollten, wer für den Berliner Aufstand verantwortlich war. General Kobulow hatte nicht den Auftrag, die DDR zu beseitigen. Das wäre auch keine Aufgabe für ihn gewesen. Amayak Kobulow war groß, schlank, gutaussehend mit Schnurrbart, charmant, die Seele jeder Gesellschaft und ein großartiger Unterhalter bei Tisch. Aber das waren auch die einzigen Tugenden von Amayak Kobulow, dessen berufliche Laufbahn als Kassierer und Buchhalter im Kurort Borshomi begann. Er kannte weder die deutsche Sprache noch die Situation in Deutschland. Dank seines älteren Bruders Bogdan, eines langjährigen Gefährten von Beria, machte er Karriere in der Tscheka.

Und am 25. Juni erhielt Semjonow einen Befehl aus Moskau, der ihn verblüffte: Er sollte die beiden Tscheka-Generale verhaften und in die Hauptstadt schicken. Semjonow rief Sergej Goglidse an und bat ihn, dringend zu kommen:

„Es gibt wichtige Angelegenheiten zu erledigen.“

Als der General das Büro von Semjonow betrat, folgten ihm zwei Offiziere mit Pistolen in den Händen. Marschall Sokolowski verkündete:

„Gemäß der Entscheidung der Instanzen erkläre ich Sie für verhaftet.“

Goglidse wurde abgeführt. Kobulow wollte nicht kommen. Beria war bereits in Moskau verhaftet worden, Kobulow senior war ebenfalls festgenommen worden, sodass Amayak Kobulow über das Regierungsnetz mit niemandem verbunden wurde. Er verstand nicht, was vor sich ging. Auf die Aufforderung, zu Semjonow zu kommen, antwortete er besorgt:

„Ich versuche, eine Verbindung mit Moskau herzustellen, aber es gibt keine Verbindung. Ich rufe dort an und komme dann vorbei.“

„Meine Verbindung funktioniert“, bot Semjonow freundlicherweise an. „Komm her und ruf von hier an, Amayak.“

Am nächsten Tag flogen Semjonow und Marschall Sokolowski mit einem Sonderflugzeug nach Moskau. Goglidse und Kobulow wurden in demselben Flugzeug unter schwerer Bewachung transportiert; sie wurden zusammen mit Beria auf die Anklagebank gesetzt.

***

Am 8. Juli 1953 flogen die DDR-Führer Ulbricht und Grotewohl erneut nach Moskau. Die sowjetische Führung wollte keine Veränderungen mehr in dem Land, das fast untergegangen wäre. Die DDR-Führer kehrten mit einer Tasche voller Geschenke nach Hause zurück. Die Reparationen wurden beendet. Alle Schulden wurden Ostdeutschland erlassen. Die Ausgaben der DDR für den Unterhalt der sowjetischen Besatzungstruppen wurden reduziert. 33 gemeinsame Unternehmen wurden der DDR übereignet. Ostdeutschland erhielt einen großen Kredit und zusätzliche Nahrungsmittellieferungen.

Ost-Berlin erpresste Moskau auf seine Weise und verlangte Hilfe. „Niemand im Westen weiß, wie die sowjetischen Menschen leben“, sagte Erich Honecker, der Nachfolger Ulbrichts an der Spitze der DDR, zu seinen Gefährten. „Und niemand kümmert es, wie sie leben, wir aber sind im direkten Blickfeld, an der Schnittstelle zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Deshalb ist die UdSSR verpflichtet, uns zu helfen.“

Moskau befürchtete, dass die DDR scheitern und zusammenbrechen würde, was die Schwäche des sozialistischen Systems offenbaren würde. Deshalb erhielt Ostdeutschland viel mehr Unterstützung als die anderen sozialistischen Länder.

 

Leonid Mletschin
ist ein vielfach ausgezeichneter russischer Print- und Fernsehjournalist sowie Autor zahlreicher Bücher, darunter zeithistorische Werke und eine Breschnew-Biografie. Er lebt in Moskau.