Donnerstag, 21. November, 2024

Minsk im Minus

Von Vladimir Soloviev

Gelingt mit dem Normandie-Format doch noch ein stabiler Friedensschluss in der Ukraine?

Man hört allenthalben, die Beilegung des Donbass-Konflikts sei in eine Sackgasse geraten. Im Fall des Donbass, so Wladimir Solowjow, sei das Problem aber umfassender zu sehen: Oft ist es schwierig, die Position und die Ziele jener zu verstehen, die über einen Frieden verhandeln.

Selbst diejenigen, die die Verhandlungen zum Donbass aufmerksam verfolgen, haben das Gefühl, dass diese sinnlos sind. Im Juli 2020 wurde verkündet, ein unbefristeter Waffenstillstand sei vereinbart. Die Kontaktgruppe, der die nicht anerkannten Volksrepubliken Donbass (VRD) und Lugansk (VRL) sowie Kiew, Moskau und die OSZE angehören, bezeichnete dies als großen Erfolg. Die Ruhe währte nicht lange, schon bald kehrte der Krieg zurück. Alle Versuche der Kontaktgruppe, die Kämpfe zu beenden, scheiterten und endeten in gegenseitigen Anschuldigungen, dass die jeweils andere Partei nicht bereit sei, den Friedensprozess voranzubringen.

Auch die Verhandlungen im Normandie-Format stocken. Deutschland, Russland, die Ukraine und Frankreich bemühen sich seit November vergangenen Jahres um eine Einigung über die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. Die Verhandlungsführer diskutierten über sogenannte Cluster. Die Idee war, aus den verschiedenen Positionen und Ansichten der Parteien einen Stufenplan zu erstellen und mit der Umsetzung zu beginnen. Fast ein Jahr ist seitdem vergangen, und niemand spricht mehr über Cluster. Seit August wird ein neues Thema behandelt: Vertreter aus Berlin, Paris, Moskau und Kiew arbeiten am Entwurf eines Abschlussdokuments für einen Gipfel im Normandie-Format.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte die Führer des Quartetts in Deutschland zusammenbringen, bevor sie aus der Politik ausscheidet. Sie hatte am Text der Minsker Vereinbarungen mitgearbeitet und widmete dem Konflikt in der Ostukraine viel Zeit und Aufmerksamkeit. Seit August sind der Leiter des ukrainischen Präsidentenbüros, Andriy Jermak, der stellvertretende Leiter der Kremlverwaltung, Dmitri Kozak, sowie die deutschen und französischen Vertreter Peer Gebauer und Emmanuel Bonn dabei, den Entwurf eines Abschlussdokuments für einen künftigen Gipfel abzustimmen.

Die Wahrscheinlichkeit eines Treffens des Normandie-Quartetts auf höchster Ebene scheint allerdings sehr gering. Dies ist jedenfalls eine verbreitete Ansicht der russischen Unterhändler. Sie halten es für sinnlos, einen neuen Gipfel abzuhalten, solange die Beschlüsse des letzten Gipfels, der im Dezember 2019 in Paris stattfand, nicht umgesetzt wurden. Und dennoch versuchen alle, sich auf einen Entwurf für ein Abschlussdokument zu einigen.

An Ergebnissen eines Treffens zu arbeiten, das möglicherweise gar nicht stattfindet, ist an sich schon seltsam. Im Laufe der Verhandlungen sind dann aber noch weitere Merkwürdigkeiten bekannt geworden, die sich aus gezielten Indiskretionen an die Presse ableiten lassen.

Ein anonymer ukrainischer Unterhändler berichtete, dass Moskau bei der Ausarbeitung des Entwurfs für das Gipfeltreffen „hartnäckig versucht hat, sich von der Verantwortung für den Konflikt mit der Ukraine freizusprechen, indem es sich erneut für die Aufnahme der Donbass-Separatisten als zweite Konfliktpartei in das Dokument des Gipfeltreffens ausgesprochen hat“. Aber, so das Fazit der Quelle, die russische Seite habe ihr Ziel nicht erreicht.

Ein Insider auf russischer Seite sagte, dass die Vertreter der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs zunächst nicht dagegen gewesen seien, die Minsker Vereinbarungen als einzige Grundlage für die Lösung des Konflikts zu sehen. Doch dann weigerten sie sich nach seinen Worten, im Entwurf des Abschlussdokuments „die geografische Lage des Konflikts, seine Natur und die Konfliktparteien, denen die Minsker Vereinbarungen Verpflichtungen zur Lösung des Konflikts auferlegt haben, festzuschreiben“.

Beide Versionen der Verhandlungen spiegeln keinen neuen Gegensatz wider. Kiew betrachtet den Krieg im Donbass als einen Konflikt mit Russland, während Moskau ihn als eine innerukrainische Angelegenheit sieht. Nachdem es Russland einmal gelungen ist, die Ukraine und die nicht anerkannten Donbass-Republiken zu Vertragsparteien der Minsker Vereinbarungen zu deklarieren, hat man nicht die Absicht, diesen diplomatischen Sieg aufzugeben, der zudem durch die UN-Resolution 2202 vom 17. Februar 2015 bekräftigt wurde.

Alle Positionen scheinen selbsterklärend zu sein. Aber genau das ist der Punkt, der Verwirrung hervorruft. Derselbe russische Insider berichtet, Kozak habe vorgeschlagen, Frankreich, Deutschland und die Ukraine sollten ihre Position zu den Konfliktparteien klar darlegen und zu Papier bringen. Ihre Vertreter und der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Andriy Jermak, hätten jedoch mündlich zum Ausdruck gebracht, dass es sich um einen internationalen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine handele und dass diese Information den „engen Kreis“ der Verhandlungsführer nicht verlassen und nicht in Dokumentenentwürfen festgehalten werden solle.

Wenn die anonyme Quelle die Wahrheit berichtet, stellt sich die Frage: Warum hat Kiew dem Vorschlag Kozaks nicht zugestimmt, wenn es doch erstens die Minsker Vereinbarungen in ihrer jetzigen Form für sich selbst als nicht vorteilhaft und daher nicht umsetzbar ansieht und zweitens möchte, dass die Rolle Russlands als Kriegspartei gegenüber der Ukraine eingeordnet wird?

Von Kiew gibt es keine Klarstellung zu diesem Punkt. Genauso schwierig ist es zu verstehen, wie die Ukraine tatsächlich zu den Minsker Vereinbarungen steht. Einerseits sagt Kiew, dass es sich für eine Lösung des Konflikts im Einklang mit den Minsker Vereinbarungen einsetze. Andererseits erklärte Oleksiy Arestowytsch, Berater der Kiewer Delegation in der Kontaktgruppe und Berater des Leiters des ukrainischen Präsidialamtes, am 3. September, die Ukraine sei endlich „vom Haken“, was die Minsker Vereinbarungen betrifft. So antwortete er indirekt dem russischen Außenminister Sergej Lawrow. Lawrow hatte zu den Verhandlungen über den Donbass gesagt, dass Präsident Selenskyj und sein gesamtes Team „sich in dem Versuch winden“, vom Haken der 2015 unterzeichneten Vereinbarungen loszukommen und neu zu verhandeln.

Am 17. September kommentierte Arestowytsch die Teilnahme von Einwohnern des Donbass an den Dumawahlen in noch schärferen Worten: „Dies ist ein grober Verstoß gegen das Völkerrecht, das nationale Recht der Ukraine und praktisch eine Aufkündigung der Minsker Vereinbarungen durch die russische Seite. Denn einen zerstörerischeren Prozess, der die Minsker Vereinbarungen zunichtemacht, kann man sich kaum vorstellen.“

Es gibt jedoch genügend klare Signale, dass Moskau sich darauf vorbereitet, das Spiel um den Donbass langfristig zu betreiben. Am schwerwiegendsten sind die jüngsten Vereinbarungen zwischen den nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk, über die Abschaffung der Zölle im gemeinsamen Grenzabschnitt, die Schaffung eines Binnenmarktes und die allgemeine Angleichung des Zivil-, Zoll- und Steuerrechts der beiden Republiken.

Das Ergebnis wäre, dass die beiden Republiken im Wesentlichen zu einer einzigen werden würden, was die Verwaltung dieser Gebiete vereinfachen würde. Ziel könnte sein, im Donbass ein Analogon zu Transnistrien zu schaffen, wo sich ein Alltagsleben längst etabliert hat, Sicherheitsfragen gelöst sind und eine eigene Wirtschaft aufgebaut wurde, die es mit russischer Unterstützung in Form von kostenlosem Gas und Finanzhilfe ermöglicht, einen niedrigen, aber stabilen Lebensstandard für die lokale Bevölkerung aufrechtzuerhalten.

Vladimir Soloviev
ist Korrespondent von Kommersant.

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