Los von Moskau: In der Ukraine formiert sich eine neue orthodoxe Kirche, für das Moskauer Patriarchat ist das Häresie
Die größten Schätze der orthodoxen Christenheit sind – viele Touristen wissen das – die prächtigen Lawra-Klöster. Die Russische Orthodoxe Kirche verfügt über fünf dieser Lawras. Solange der russische Machtbereich expandierte, vom kleinen Großfürstentum Moskau bis zur späten Sowjetunion, kamen immer neue Klöster und Gotteshäuser zum Besitzstand dieser Kirche hinzu. Doch mit dem Ende des Zarenreichs und erst recht jenem der Sowjetunion zog sich die Staatsgrenze, bildlich gesprochen, hinter die Klostermauern zurück. Der Staat schrumpfte; die staatsnahe Kirche dagegen versuchte, die Stellungen zu halten. Zwischen den Weltkriegen lag eine der Lawras im östlichen Polen. Heute liegen drei der fünf Lawras, dazu mehr als 10000 Gemeinden, deren oberste geistliche Autorität in Moskau ansässig ist, in der Ukraine.
Dort vollzieht sich heute vor unseren Augen ein großes Ereignis der Kirchengeschichte, das vielleicht mit der Reformation verglichen werden kann. Zu Luthers Zeiten trennten sich im Reich Teile der Kirche von Rom; heute trennt sich ein Teil der Kirche in der Ukraine von Moskau. (Dass in Russland Moskau als das „dritte Rom“ gesehen wurde, als geistliches Zentrum nach Rom und Konstantinopel, sei nur am Rande erwähnt.) Dass Anfang Mai reformfreudige orthodoxe Christen an der ältesten Kirche Kiews, der Sophienkathedrale, „zehn Thesen“ angeschlagen (und eine entsprechende Facebook-Gruppe gegründet) haben, nimmt klar auf Luthers Thesenanschlag Bezug. Dass Kirchenneugründungen dieser Art von großer politischer Bedeutung sind, liegt auf der Hand.
Begonnen hatte die „Los von Moskau“- Bewegung schon früher. Ähnlich jenen Ländern, die 1917/18 vom Zarenreich unabhängig wurden (darunter Polen und Finnland), wurden nach 1991 in weiteren Ländern orthodoxe Kirchen gegründet, die unabhängig vom Moskauer Patriarchen sein wollten. Oberste Autorität für alle Orthodoxen ist ohnehin der „Ökumenische Patriarch von Konstantinopel“, der in Istanbul residiert, derzeit Bartholomaios I.
Nach der Auflösung der Sowjetunion wurde auch in der Ukraine eine neue Kirche gegründet, die beanspruchte, mit Filaret I. einen „Kiewer Patriarchen“ zu haben. Diese „Kiewer“ Kirche und eine weitere ukrainische Kirche wurden jedoch von der orthodoxen Weltgemeinschaft nicht anerkannt. Die klare Mehrheit der kirchlichen Strukturen, der Klöster und Gemeinden in der Ukraine gehörte weiterhin zum Moskauer Patriarchat.
Doch Kirchengrenzen folgen in der Geschichte früher oder später oft den etablierten Staatsgrenzen. Einige Zeit nach Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine 2014 wurde klar, dass die Ukrainer sich als Nation über sprachliche, ethnische und religiöse Grenzen hinweg konsolidiert hatten – ob mit oder ohne Krim und einem Teil des Donbass.
Diese Konsolidierung betraf, wie Umfragen zeigen, auch kirchliche Fragen: Während früher einem großen Teil der (zu etwa drei Vierteln orthodoxen) Bevölkerung gar nicht bewusst oder ziemlich egal war, ob ihr Pfarrer zur „Moskauer“ oder zur „Kiewer“ Kirche gehörte, bekannten sich jetzt immer mehr Menschen ausdrücklich zu einer „ukrainischen“ Kirche. Daraufhin steuerten – da die „Kiewer“ Kirche nicht anerkannt war – der Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, und der Patriarch von Konstantinopel die Gründung einer neuen „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ (PCU) an. Sie sollte (im Idealfall) alle bisherigen orthodoxen Kirchenstrukturen im Land aufnehmen und von der Weltorthodoxie anerkannt sein.
Im Januar dieses Jahres war es so weit: Bartholomaios I. erließ den „Tomos“, eine Bulle oder ein Dekret, über die Gründung einer eigenständigen (autokephalen) Kirche in der Ukraine. Vorangegangen war ein Konzil in der Sophienkathedrale, zu dem alle Bischöfe des Landes eingeladen waren. Von der „Moskauer“ Kirche kam fast niemand, dafür die Bischöfe der zwei seit 1991 in der Ukraine bestehenden Kirchen. Gemeinsam mit Vertretern der Priester und der Laien wählten sie das erste Oberhaupt der neuen Kirche. Es ist der 1979 geborene Metropolit Epifanij (Epiphanius, bürgerlich Serhij Dumenko). Epifanij, jetzt „Metropolit von Kiew und der ganzen Ukraine“, war bisher unter anderem Rektor der Kiewer Theologischen Akademie und ein enger Mitarbeiter des selbsternannten „Kiewer Patriarchen“ Filaret gewesen. Dieser trägt jetzt den Titel „Ehrenpatriarch“, versucht aber trotz seines Alters von 90 Jahren, sich weiterhin ins kirchliche Leben einzumischen.
Anfang des Jahres wurden vom Parlament Gesetze verabschiedet, die regeln, wie eine Gemeinde zu einer anderen Kirche übertreten kann: Dies geschieht, wenn zwei Drittel der Gemeindeglieder sich in einer schriftlich fixierten Abstimmung dafür aussprechen. Laut dem kirchlichen Portal risu.org.ua sind seit der Neugründung bis Mitte Mai 520 Gemeinden zur PCU übergetreten. Gewaltakte gegen Kirchengebäude, wie sie in den vergangenen Jahren vereinzelt vorgekommen sind, gehören Dank der gesetzlichen Regelung hoffentlich der Vergangenheit an.
Die „Moskauer“ Kirchenstrukturen in der Ukraine sind jedoch zahlenmäßig immer noch stärker. Der Moskauer Patriarch sieht in der PCU „Häretiker“, während umgekehrt die PCU in der Kirche in Russland einfach eine von 15 orthodoxen Schwesterkirchen sieht. Dabei gibt es zwischen beiden Kirchen keine theologischen Unterschiede. Doch der Verlust der „frommen“ Ukraine mit ihrer verglichen mit Russland größeren Gemeindedichte wäre für den Moskauer Patriarchen Kyrill I. ein herber Verlust an Einfluss.
Die Russische Orthodoxe Kirche hatte sich, ähnlich wie zu Sowjetzeiten, auch unter Präsident Putin als Sprachrohr der Moskauer Außenpolitik instrumentalisieren lassen. Patriarch Kyrill warb schon vor 2014 – sogar bei Auftritten in der Ukraine – für das imperiale Konzept der „russischen Welt“, das auch die Ukraine einschließen sollte. Die russischen Staatsmedien schießen jetzt scharf gegen Patriarch Bartholomaios und gegen die Kirchengründung und gehen sogar so weit, von einer ukrainischen „Christenverfolgung“ wie zu Sowjetzeiten oder gar „wie im alten Rom“ zu sprechen. Im Grunde hat sich die Weltorthodoxie aufgrund all dieser Ereignisse gespalten. Dort steckt, so ist zu befürchten, noch weiteres Konfliktpotenzial.
Zugleich steckt in der neuen Kirche in der Ukraine ein großes Reformpotenzial – der Reformbedarf wurde in der orthodoxen Welt wohl nie so offen ausgesprochen wie jetzt in Kiew. Die zehn Thesen umfassen Forderungen nach einer Aufwertung der Laien in der Kirche, nach mehr (ökumenischer) Offenheit, mehr Distanz zu Staat und Politik, dafür zugleich mehr sozialem und gesellschaftlichem Engagement; ausdrücklich werden die ökumenischen Gemeinschaften Taizé und L’Arche als Beispiele genannt. Auch Transparenz und Rechenschaftspflicht sowie das Prinzip „Einheit in Vielfalt“ innerhalb der eigenen Kirche werden angemahnt. Man kann nur hoffen, dass auch die Kirchen in Deutschland schnell erkennen, welch große Umwälzung in der Ukraine stattfindet, und ihre Hand ausstrecken zum Kennenlernen, zu Dialog und Zusammenarbeit.
Gerhard Gnauck
ist Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Polen, die Ukraine und das Baltikum mit Sitz in Warschau.