Samstag, 21. Dezember, 2024

Haben die Westalliierten einen unangenehmen Abschiedsbrief von Rudolf Heß unterschlagen?

Von Andrej Plotnikow

Das Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg gegen Rudolf Heß lautete auf lebenslänglich. Gemeinsam mit sechs weiteren Hauptkriegsverbrechern der NSDAP wurde der „Stellvertreter des Führers“ am 18. Juli 1947 in einem Flugzeug der britischen Royal Air Force nach Berlin gebracht. Am Flughafen stiegen sie unter schärfster Bewachung in einen Bus, der sie in ein Gefängnis im Westen von Berlin fuhr, das von diesem Zeitpunkt an den Namen Kriegsverbrechergefängnis Spandau tragen sollte.

Nach der Ankunft in Spandau erhielt jeder Häftling eine persönliche Nummer zugeteilt, entsprechend der Reihenfolge, in der sie aus dem Bus stiegen. Als letzter verließ Rudolf Heß den Bus, Häftling Nr. 7. Von diesem Moment an wurden die Männer nicht mehr mit Namen, sondern mit ihrer Nummer angesprochen. Gemeinsam arbeiteten sie, gemeinsam besuchten sie die Gefängniskirche und gemeinsam gingen sie spazieren. Aber sie waren in Einzelzellen untergebracht und durften nicht miteinander reden.

Im Winter klebten die Insassen im Gefängnisgebäude Briefumschläge. In der warmen Jahreszeit arbeiteten sie im Innenhof des Gefängnisses, in dem frühere Häftlinge ihre Hofgänge gemacht hatten. Den Gefangenen oblag es, die Haftanlagen in Ordnung zu bringen. Hauptplaner und Gestalter des Gefängnisgartens war Häftling Nr. 5, Albert Speer. Unter seiner Leitung legten die Männer Wege und kleine Beete an, für deren Pflege es persönlich Verantwortliche gab. Untereinander nannten sie diesen Ort den „Speer-Garten“ oder das „Speer-Paradies“.

Die Häftlinge durften alle zwei Monate Besuch von Verwandten empfangen, einzeln und jeweils 15 Minuten lang. Den Gefangenen war es erlaubt, höchstens einen Brief pro Monat zu schreiben oder zu empfangen. Die Gefängnisverwaltung kontrollierte die gesamte eingehende und ausgehende Korrespondenz.

Am 1. Oktober 1966 hatten Baldur von Schirach und Albert Speer ihre 20-jährigen Haftstrafen abgesessen. Von diesem Tag an hatte das Kriegsverbrechergefängnis Spandau nur noch einen Häftling: Rudolf Heß.

Heß kam 1894 in Alexandria zur Welt, sein Vater betrieb dort eine Importfirma. Ägypten war zu dieser Zeit britische Kolonie. Heß besuchte eine Handelsschule in der Schweiz, später ging er nach München. Im ersten Weltkrieg meldete er sich als Freiwilliger an die Front, wurde zweimal verwundet, erhielt das Eiserne Kreuz zweiter Klasse und wurde zum Leutnant befördert. Auf seine persönliche Bitte hin ließ er sich zum Flugzeugführer ausbilden und an die Front versetzen. Aber da war der Erste Weltkrieg zu Ende, und der Leutnant wurde aus dem Dienst entlassen.

1919 schrieb Heß sich an der Münchner Universität ein, 1920 begegnete er Hitler, als dieser in einer Rede in einem Münchner Bierhaus den Verrat der deutschen Regierung an den Frontsoldaten anprangerte. Heß teilte seine Ideen, und mit diesem Tag begannen ihre Freundschaft und ihre Zusammenarbeit. Bald darauf wurde Hitler zum Führer der NSDAP und Heß zu seinem Sekretär.

Beim Hitlerputsch 1923 führte dieser ein studentisches SA-Bataillon an. Danach saß er gemeinsam mit Hitler in der Festung Landsberg in Haft. Hitler arbeitete an seinem Buch „Mein Kampf“, und Heß übernahm mehrere Funktionen gleichzeitig: Er war Diskussionspartner, Schreibkraft, erster Zuhörer und Berater. Zudem spiegelten sich in Hitlers Buch die „Lebensraum“- Thesen des Professors für Geopolitik Karl Haushofer wider, dessen Schüler Heß gewesen war.

Nach der Haftentlassung nahm Hitler den Kampf um die Zulassung der NSDAP zu den Reichstagswahlen auf. Heß war immer an der Seite seines „Führers“, ein Titel, der auf ihn zurückgeht. Im Dezember 1932 ernannte Hitler Heß zum Vorsitzenden der Politischen Zentralkommission der NSDAP. 1933 wurde Hitler Reichskanzler, Heß „Stellvertreter des Führers“. Bald darauf wurde er zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich und Mitglied der Regierung. Ihm oblag die Kontrolle aller Aktivitäten der Regierung und aller Regierungsorgane im Hinblick auf die Einhaltung der NS-Ideologie. Er trieb auch maßgeblich die Umsetzung des faschistischen Rassenhygieneprogramms voran.

Am 10. Mai 1941 flog Heß mit einer zweimotorigen Messerschmidt Bf 110 von Augsburg nach Großbritannien. Er versuchte die Engländer davon zu überzeugen, dass sie keine Chance hätten, den Krieg zu gewinnen, weshalb es sinnvoll sei, Frieden zu schließen. Hitler brauchte den Frieden mit Großbritannien, um ungehindert in die UdSSR einmarschieren zu können. Der deutsche Plan eines Überfalls auf die UdSSR stand schon fest, das wusste Heß, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er Großbritannien vorschlug, an diesem Feldzug teilzunehmen. Premierminister Winston Churchill lehnte jedes Gespräch ab, und Heß blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Kriegsgefangener in Großbritannien, bevor er im Herbst 1945 nach Nürnberg überstellt und vor dem Internationalen Militärgerichtshof angeklagt wurde.

Als Heß schließlich als einziger Häftling im Spandauer Gefängnis übriggeblieben war, wurde das alliierte Wachpersonal verringert, und mit der Zeit erhielt er wegen des fortgeschrittenen Alters Hafterleichterungen. Zum Beispiel wurde im Gefängnisgarten ein kleines Häuschen errichtet, in dem der Häftling während seiner Spaziergänge ausruhen konnte.

Am 17. August 1987 brachte der Wächter Anthony Jordan, ein Afroamerikaner, den Häftling Nr. 7 zum Spaziergang in den Garten und ließ ihn vorschriftswidrig unbeaufsichtigt im Gartenhäuschen zurück. Einige Zeit später warf der Soldat einen Blick in das Häuschen und sah Heß auf dem Boden liegen. Um seinen Hals war ein Stromkabel gebunden, dessen anderes Ende am Fenstergriff befestigt war. Der Häftling war bewußtlos. Jordan meldete den Vorfall seinem diensthabenden Vorgesetzten. Aber es war zu spät: Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos, im britischen Militärhospital konnte nur noch der Tod festgestellt werden.

Da das Kriegsverbrechergefängnis Spandau sich im britischen Sektor Berlins befand, untersuchte die britische Militärpolizei der Umstände von Heß’ Tod. Ergebnis: Häftling Nr. 7 hatte Suizid begangen. Ein Abschiedsbrief schien das zu bestätigen.

Die Ermittlungsakten wurden anschließend zur geheimen Verschlusssache erklärt. Heß‘ Leiche wurde seiner Familie übergeben, das Kriegsverbrechergefängnis Spandau abgerissen. Die vier Alliierten erhielten Kopien des Gefängnisarchivs, die Originale wurden vernichtet.

Seit 2013, 25 Jahre nach Abschluss der Untersuchung über den Todesfall, sind die Akten frei zugänglich. Sie enthalten eine Reihe von Unstimmigkeiten und offensichtlichen Fälschungen.

Die Analyse der politischen Weltlage von 1987, der Gegebenheiten in dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis zu jener Zeit und der Ermittlungsakten der britischen Militärpolizei drängen den Verdacht auf, dass Heß keinesfalls ernsthaft vorhatte, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden.

Im März 1987 war Heß in kritischem Zustand ins britische Militärhospital eingeliefert worden, seither wusste er, daß die nächste Erkrankung für ihn verhängnisvoll sein könnte. Er wollte nicht im Gefängnis sterben, aber um freizukommen, war es notwendig, sich möglichst lautstark der Öffentlichkeit und den alliierten Stadtkommandanten in Erinnerung zu bringen.

Eine Möglichkeit dazu war ein vorgetäuschter Selbstmord, was Heß schon mehrfach während der langen Jahre der Haft unternommen hatte. Die Überlebenswahrscheinlichkeit war groß, die britischen Ärzte hatten ihre Fähigkeiten ja mehrfach bewiesen. Aber der „Abschiedsbrief“ in seiner Tasche, in dem er sich über die schlechte Behandlung von Seiten der Gefängnisverwaltung beklagte, was als vorgeblicher Grund für den Selbstmordversuch diente, sollte in sämtlichen Presseorganen erscheinen und Reaktionen hervorrufen.

Am 17. August, nachts um 2 Uhr, trat Heß aus seiner Zelle in den Gang hinaus und sah, dass dort der Amerikaner Nowak Dienst tat. Das bedeutete, dass während des nachmittäglichen Spaziergangs Jordan bei ihm sein würde, der Wächter, gegen den Heß wegen dessen Hautfarbe bereits protestiert hatte.

Aus den Akten der britischen Militärpolizei lassen sich die damaligen Ereignisse rekonstruieren. Heß betrat das Gartenhäuschen und schloß die Tür hinter sich. Jordan blieb draußen, er setzte sich auf die Bank unter einen Baum. Heß trennte das Elektrokabel von der Stehlampe, befestigte ein Ende des Kabels am Fenstergriff und legte sich rücklings auf die Erde unter dem Fenster, so dass er mit den Schultern an der Wand lehnte. Dann machte er einen einfachen Knoten in das Kabel und legte sich die Schlinge um den Hals. Schließlich wand er sich das Kabel ein weiteres Mal um den Hals und wartete.

Heß kalkulierte, dass er womöglich das Bewusstsein verlieren würde, aber nicht ersticken könne, weil er fast ganz auf dem Boden lag. So würde ihn der Wächter reanimieren, wie schon viermal zuvor.

Sein Wächter Jordan hatte während dieser Zeit unter dem Baum gesessen, nach den Berechnungen der Militärpolizei ungefähr zehn Minuten. Dann beschloss er, den Gefangenen zu kontrollieren, und erblickte durch das Fenster den auf dem Boden liegenden Heß. Der Amerikaner lief in das Haus, hob den Häftling auf und löste das Kabel vom Hals. Dabei fiel ihm auf, dass es sich sehr leicht lösen ließ. Als der Kommandeur der Wachmannschaft, ein Lieutenant der amerikanischen Armee, das Gartenhäuschen erreichte, war der Puls des Häftlings noch zu spüren.

Am Abend desselben Tages erhielten der amerikanische und der britische Direktor des Kriegsverbrechergefängnisses Spandau vom Leiter des britischen Militärhospitals ein Kuvert. Es enthielt den Inhalt von Heß’ Taschen, darunter auch einen Abschiedsbrief. Den Direktoren war sofort klar, dass dieser Brief nicht an die Öffentlichkeit gelangen durfte.

Tatsächlich ist ein älterer Abschiedsbrief von Heß aus dem Jahr 1969 erhalten. Damals hatte er einen Magendurchbruch erlitten und befand sich in Lebensgefahr. Es ist davon auszugehen, dass die Direktoren diesen alten Brief mit Hilfe eines Farbkopiergeräts auf die Rückseite eines Briefs übertrugen, den Heß kurz zuvor an seine Schwiegertochter geschrieben hatte, wobei man das Datum entfernte. In dieser Form ist er heute der ganzen Welt bekannt als der Abschiedsbrief des Rudolf Heß. Was tatsächlich in dem echten Abschiedsbrief des Häftlings Nr. 7 stand, das ist und bleibt wahrscheinlich das letzte Geheimnis des Kriegsverbrechergefängnisses Spandau.

Andrej Plotnikow
war 1986 einer der Wächter Rudolf Heß‘ in der Justizvollzugsanstalt Spandau.

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