Donnerstag, 21. November, 2024

Falsche Liebe: Weshalb Ost- und Westdeutsche die Russlandpolitik so unterschiedlich beurteilen

Von Stefan Locke

Die deutsche Einheit ist seit fast 30 Jahren Wirklichkeit, doch die innere Einheit lässt auf sich warten: Statistiken zu Bevölkerung, Demographie und Wirtschaft weisen große Unterschiede zwischen den Gebieten der einstigen Bundesrepublik und der DDR aus, die stets aufs Neue die Frage aufwerfen: Wie lange noch benötigt der Osten bis zur Angleichung an das Westniveau?

Damit ist klar, dass der Westen als Normalfall betrachtet wird, an den der Osten sich anpassen müsse, wozu er zumindest in den genannten Kategorien durchaus auch bereit ist. Komplizierter ist es jedoch mit der Anpassung von Ansichten und Erfahrungen, die nach der 40 Jahre währenden Teilung Deutschlands nicht nur in zwei Länder, sondern in zwei völlig verschiedene Gesellschaftssysteme, zwangsläufig unterschiedlich sein müssen.

Immer wieder für heftige Kontroversen sorgt dabei das Verhältnis der Deutschen zu Russland. Das war erst jüngst zu erleben, als Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg für ein baldiges Ende der EU-Sanktionen gegen Russland plädierte und den russischen Präsidenten Wladimir Putin nach Dresden einlud. Während der Vorstoß im Westen Deutschlands überwiegend skeptisch kommentiert wurde, war im Osten lautstarke Zustimmung zu hören.

Zuzustimmen ist Kretschmer auch in seiner nüchternen Feststellung, in Ostdeutschland gebe es eine eigene Meinung zu dem Thema. Das weiß er so genau, weil die deutsch-russischen Beziehungen bei nahezu jedem seiner Bürgergespräche angesprochen werden. Es sind vor allem ältere Menschen in Ostdeutschland, die auf die Russlandpolitik der Bundesregierung und des Westens mit Ablehnung und Unverständnis reagieren.

Das alles sieht jedoch einhelliger aus, als es ist. Tatsächlich haben viele Ostdeutsche ein ziemlich ambivalentes Verhältnis zu Russland – wie im Übrigen auch zu den USA. Die Älteren im Osten haben „die Russen“ als Befreier und Besatzer kennengelernt. Vierzig Jahre lang waren eine halbe Million Sowjetsoldaten auf dem Gebiet der DDR stationiert. Das eher kleine Ostdeutschland hatte nicht nur die kompletten Reparationen für die Kriegsverheerungen (Gesamt-) Deutschlands in der Sowjetunion zu leisten – meist als Demontagen von Betrieben und Infrastruktur wie Bahngleisen –, sondern musste bis 1989 auch für Unterkunft, Verpflegung und Gehälter der Besatzungsarmee aufkommen.

Die SED-Führung war eine Marionette Moskaus und für die DDR-Bevölkerung die Mitgliedschaft in der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft (DSF) genauso obligatorisch wie der Russischunterricht in der Schule, den viele als lästige Pflicht empfanden. Begegnungen mit Sowjetsoldaten gab es fast nur im offiziellen Rahmen, private Kontakte waren meist verboten. Angesichts dieses Erlebens war es mit der Russland-Liebe zu DDR-Zeiten nicht weit her. Im Gegenteil: Als die Truppen 1994 auch aus Dresden abzogen, sprach der damalige Oberbürgermeister Herbert Wagner offiziell von einem Abschied, „der uns nicht mit Trauer erfüllt“.

Andererseits haben persönliche Begegnungen ein differenziertes Bild vermittelt, am intensivsten bei den Ostdeutschen, die in der Sowjetunion studieren durften oder eine der begehrten Reisen in das Riesenreich machen konnten. Wer jemals in Russland oder den einstigen Sowjetrepubliken unterwegs war, kann bestätigen, wie freundlich, wissbegierig und herzlich die Reisenden von den Menschen aufgenommen wurden.

Diese Erlebnisse dürften jenen der Westdeutschen ähneln, die in den USA zur Schule gingen, studierten oder Urlaub machten. Solche Erfahrungen prägen das Verhältnis zu einem Land und seinen Menschen, und sie sind gerade bei den älteren Deutschen in Ost und West zwangsläufig sehr verschieden.

Anders als im Westen, wo das Feindbild Russland jahrzehntelang so intensiv gepflegt wurde wie im Osten das der USA, ist die Angst vor „den Russen“ bei den Menschen im Osten nicht sonderlich ausgeprägt, während sich Amerikanern gegenüber bis heute eine gewisse Skepsis hält. Für Westdeutschland wiederum gilt der umgekehrte Befund.

Grundlage der gegenwärtigen Zuwendung zu Russland im Osten ist je doch auch eine falsche Liebe zu dem Riesenreich, die vor allem ein Produkt der schwierigen Zeit des Umbruchs nach der Wiedervereinigung ist, als im Osten quasi über Nacht hunderttausende Menschen ihre Arbeit und damit ihr bisheriges Leben verloren und sich einem schier übermächtigen Westen ausgeliefert sahen. Die Sympathien für Putin und sein Handeln entspringen bei diesen Leuten eher einer inneren Auflehnung gegen den Westen, der nach Ansicht vor allem eines Teils der älteren Ost-Generationen seine Lebensweise jetzt noch weiter nach Osten exportieren will.

Immer wieder vertreten wird dabei auch die falsche und von Michail Gorbatschow längst dementierte These, wonach die Nato der Sowjetunion für die Zustimmung zur Deutschen Einheit versprochen habe, nicht nach Osten zu expandieren. Dabei übersehen deren Verfechter leichtfertig das Selbstbestimmungsrecht der Länder Osteuropas und den erklärten Willen der Mehrzahl ihrer Einwohner.

Nicht negiert werden darf jedoch, dass es auch im Osten Deutschlands viele Menschen gibt, die sehr wohl die Begründung für die Sanktionen gegen Russland nachvollziehen können. Auch sie wollen nicht, dass diese aufgehoben werden, solange Putin die Krim widerrechtlich besetzt hält und den Krieg in der Ost-Ukraine mit Geld, Waffen und Soldaten fördert. Das sieht im Übrigen auch Michael Kretschmer so.

Dass er für seinen – freilich auch mit Blick auf die Landtagswahl geäußerten – Vorschlag in Sachsen und Ostdeutschland so großen Zuspruch bekommt, liegt aber auch daran, dass die Folgen der Sanktionen Ostdeutschland viel stärker treffen als den Westen. Manch ostdeutschem Maschinenbauer, der seine Kontakte mit Russland reaktiviert hatte, ging durch die Sanktionen viel Umsatz verloren, einige schlitterten gar in die Pleite, Landwirte verloren aufgrund russischer „Gegensanktionen“ ihre Absatzmärkte.

Diese Entwicklung trifft die vergleichsweise schwache Ost-Wirtschaft gleich doppelt, doch das wird in Westdeutschland kaum wahrgenommen. Gerade Ostdeutsche fragen sich deshalb, ob dies auch hingenommen würde, wären die Folgen für den Westen ähnlich.

Stefan Locke
ist politischer Korrespondent für Sachsen und Thüringen für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.