Europa in all seiner Vielfalt
Im alten Flughafen Tempelhof in Berlin wurde unter Schirmherrschaft der Stiftung Petersburger Dialog das Ausstellungsprojekt „Diversity United“ zur Präsentation der modernen Kunst Europas eröffnet
Die europäische bildende Kunst spiegelt die ganze Vielfalt des Projekts Europa wider: die Suche nach Identität, die Widersprüche, Zweifel, Risiken und Chancen, die sich in Gegenwart und Zukunft immer wieder neu ergeben. Kunst besitzt die Fähigkeit, als Katalysator für Integration und Dialog zu wirken. Diese Eigenschaft der Kunst zu demonstrieren, ist das Hauptziel der Ausstellung „Diversity United“. Wir, eine Gruppe von elf Kuratoren, haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Kunstszene in Europa zu erkunden und zu versuchen, die gesamteuropäische Kunstlandschaft, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstanden ist, nachzuvollziehen.
„Diversity United“. Natürlich handelt es sich nicht um den ersten Versuch, durch die Analyse der bildenden Künste eine Europa-Vorstellung zu entwickeln. Vorgänger waren eine Reihe von großen Ausstellungen, auch in Deutschland und Russland, die jeweils eigenständige Beiträge zum Verständnis der Verantwortung der Kultur für die europäische Kunst geleistet haben.
Das Projekt „Diversity United“ ist ein neuer Versuch in einem neuen Kontext. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer haben sich die politischen Verhältnisse radikal verändert. Die Welt befindet sich inmitten einer tektonischen Verschiebung. Die Kriterien für die Beziehungen Europas zu Amerika, Afrika und Asien werden ständig erneuert, ebenso die innereuropäischen Beziehungen. Geographisch gesehen besteht Europa aus 40 Staaten, von denen jeder seine eigenen Interessen verfolgt und gleichzeitig sowohl gemeinsame als auch manchmal unvereinbare Ziele anstrebt. Einst wurde Europa als „Projekt ohne Grenzen“ (Edgar Morin) und „Bruderschaft der Leiden“ (Bruno Bauer) definiert – heute ist es offensichtlich, dass uns gemeinsame Probleme mehr zusammenbringen als gemeinsame Freuden.
Sinn unserer Ausstellung ist es daher, die Frage nach dem heutigen Europa zu beantworten. Was sind europäische Werte? Was bedeuten sie für uns? Auf welchen Prämissen ruht die Einheit Europas? Wie verlässlich sind Solidarität, Respekt und gegenseitige Toleranz?
90 Künstler und Künstlerinnen, Künstlerduos und Gruppen aus ganz Europa präsentieren ihre Ansichten, formulieren und kommentieren diese und weitere Fragen. Die Ausstellung gibt keine allgemeingültige Antwort, sondern konzentriert sich auf historisch wichtige und aktuelle Themen wie Freiheit und Würde, Demokratie und Respekt, politische und persönliche Identität, Migration, innere Landschaft, Genderprobleme und Gleichberechtigung, Nationalität und Territorialität sowie geopolitische und soziale Konflikte.
Die Ausstellung „Diversity United“ sollte eher als Essay denn als enzyklopädische Darstellung verstanden werden. Das Konzept der Ausstellung wurde von den Künstlern selbst beeinflusst, von denen die meisten eigens für diese Schau neue Werke schufen und sich an den Diskussionen beteiligten. Die Struktur der Ausstellung hat sich weitgehend durch diese starke Interaktion entwickelt. Das kuratorische Konzept basiert auf dem Prinzip der inhaltlichen Freiheit, das den Künstlern einen unbegrenzten Raum zur Entfaltung ihrer Ideen bietet.
Mit der Auswahl der Autoren möchten wir zu einer Reflexion über die Gegenwart und Zukunft Europas in seiner ganzen Vielfalt beitragen und die Sichtweisen von Künstlern präsentieren, deren Werke diese Diskussion bereichern. Europa ist nicht nur Brüssel und Straßburg; es ist nicht nur eine Gemeinschaft, die sich von politischen Interessen und wirtschaftlichen Zielen leiten lässt. Europa ist eines der wichtigsten Zentren der Weltkunst. Das war die Überzeugung der deutschen Kunstkritiker und Schriftsteller Karl Einstein und Paul Westheim, die 1925 den Europa-Almanach herausgaben, in dem Malern, Schriftstellern, Dichtern, Architekten, Musikern, Schauspielern und Vertretern anderer kreativer Berufe aus europäischen Ländern von Frankreich bis Russland, von Schweden bis Rumänien die Möglichkeit gegeben wurde, sich zu äußern oder ihre Werke zu veröffentlichen. Frauen und Minderheiten waren seinerzeit noch sehr stark unterrepräsentiert, ein Problem, das bis heute nicht abschließend überwunden ist.
Der englische Historiker Ian Kershaw beschreibt in seinem Buch „Achterbahn“ die Geschichte Europas von 1950 bis 2017, er nimmt von der alten, von dem Dichter Hermann Kasack eingeführten Metapher des Jahrmarkts das Bild einer extrem steilen Achterbahn und beschreibt die Entwicklung des Kontinents nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation. Da die Zeit, in der man lebt, schwieriger zu analysieren ist als die Vergangenheit, ist es durchaus legitim, unsere Realität als Fahrt mit einem extremen Fahrgeschäft zu beschreiben. Die Welt steht vor großen Herausforderungen – globale Erwärmung, Pandemie, Migration. Diese Herausforderungen betreffen auch Europa, bedrohen seine Integrität und Einheit. In verschiedenen Ländern sind nationalistische und separatistische Bestrebungen auf dem Vormarsch, die Populisten werden zu einer immer einflussreicheren Kraft, es werden Lösungen propagiert, die täuschend einfach erscheinen, tatsächlich aber in der Regel auf Kosten einer Minderheit umgesetzt würden. Das Projekt „Diversity United“ will zeigen, wie Künstler auf die Krise reagieren, wie sie der Routine des Alltags das poetische Bild der Hoffnung entgegensetzen. Schließlich leben wir in einer ebenso beunruhigenden wie faszinierenden Zeit.
In enger Zusammenarbeit, begleitet von vielen lebhaften Diskussionen, haben die Kuratoren 90 Künstlerinnen und Künstler aus 35 Ländern zur Teilnahme an diesem Projekt ausgewählt. Sie repräsentieren verschiedene Generationen. Neben etablierten und erfolgreichen Künstlern wie Eija-Liisa Ahtila, Maurizio Cattelan, Rineke Dijkstra, Olafur Eliasson, Gilbert & George, Mona Hatoum, Ilya und Emilia Kabakov, Anselm Kiefer, Annette Messager, Gerhard Richter, Nedko Solakov oder Luc Tuymanns machen jüngere Künstler auf sich aufmerksam: Andreas Angelidakis, Yael Bartana, Olga Chernysheva, Aleksandra Domanovic, Constant Dullaart, Pia Fries, Ane Graff, Petrit Halilaj, Alicja Kwade, Kris Lemsalu, Katya Novichkova oder Adam Saks. Alle Mitwirkenden waren an der Erstellung des Konzepts beteiligt, in den meisten Fällen haben sie entweder neue Arbeiten vorgestellt oder bereits vorhandene modifiziert. Am Ende ergab sich daraus keine hierarchische Struktur oder eine kohärente Erzählung, sondern ein offenes Feld, das sich wie ein Pilzgeflecht im Raum ausbreitete und Bedeutungscluster bildete. Es wurden paarbildende Begriffe identifiziert: Dialoge und Tagebücher, Erinnerung und Konflikt, Zukunft und Aufklärung, Grenzen und Rahmen, Bilder der Natur und Bilder der Gedanken, Aktion und Abstraktion, Krise und Widerstand, Träume und Demokratie, Macht und Gleichheit – sie alle bilden assoziative Räume, in denen ein Dialog der künstlerischen Arbeiten möglich ist.
Dieser Dialog zieht sich durch die gesamte Ausstellung, verkörpert metaphorisch die verschiedenen Eigenschaften europäischer Landschaften – geografisch, mental und intellektuell. Die Themen, denen sich die Künstler zugewendet haben, sind Demokratie und Zensur, persönliche und politische Identität, territoriale Zugehörigkeit und die Bedeutung von Grenzen, wirtschaftliche Abhängigkeiten und soziale Widersprüche, Geschichte und religiöse Konflikte, Umwelt und Ökologie, Migration und Gewalt – und immer wieder die Fragen nach der Verantwortung Europas für Europa. Die Ausstellung zeigt, dass das Projekt Europa und das Projekt Kunst eines gemeinsam haben – Fragilität.
Zu Beginn der Ausstellung sehen wir eine Installation von Lucy + Jorge Horta, bestehend aus Zelten und Fahnen, die gleichzeitig Territorialität und Nomadentum symbolisieren – ein poetisiertes Bild von Transnationalität und verantwortungsvollem Umgang mit der Natur. Auch hier, am Eingang, demonstriert eine interaktive Installation von Andreas Angelidakis die Möglichkeiten der Teilnahme an demokratischen Prozessen und die Bedeutung der öffentlichen Meinungsäußerung. Er lädt das Publikum ein, durch einen Disput Demokratie selbst zu praktizieren, und erinnert an die in Europa geborene Errungenschaft, das Volk an Entscheidungen zu beteiligen, die alle betreffen. Neben Angelidakis’ Installation ist eine Arbeit von Dan Perjovschi zu sehen, der die Diktatur in Rumänien schmerzhaft selbst erlebt hat. Auf ironische Weise hinterfragt er die Rolle der Medien als eine der Säulen der Gesellschaft und ihre Verantwortung für eine objektive Widerspiegelung der Realität. Beide Künstler definieren den öffentlichen Raum als durch das Volk (griech. demos) geprägt. Direkt gegenüber zeigt Monica Bonvicini eine Installation aus Leuchtstoffröhren, die die Doppelbedeutung von „Aufklärung“ verkörpert: Aufklärung, Erleuchtung und Transparenz als Voraussetzung für eine lebensfähige Gesellschaft.
Mona Hatoums Installation lenkt die Aufmerksamkeit auf ein System aus Gewichten und Gegengewichten, das erst im Vergleich zur Balance deutlich wird, während Sheila Kamerich vor den Gefahren der Freiheit warnt, indem sie die Lichtskulptur Liberty mit Stacheln überzieht. Patricia Kaersenhout, eine Künstlerin niederländisch-surinamischer Herkunft, beschäftigt sich mit Fragen der Unterdrückung und Ausbeutung in der Geschichte des europäischen Kolonialismus. In ihrer Installation bezieht sie sich auf die christliche Tradition der Buße und fokussiert auf aktuelle gesellschaftspolitische Prozesse. Die Willkür der territorialen Abgrenzung wird in Marzia Miglioras lyrischem Film – dessen Titel ein Wortspiel enthält: Fil de seida (Seidenfaden oder Grenzlinie) – und in den Arbeiten von Jan Svenungsson thematisiert. Letzterer reflektiert die sich verändernde politische Landschaft Europas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Beitritt neuer Staaten zur Europäischen Union oder dem Brexit und stützt sich dabei auf topographische Karten, die er immer wieder willkürlich reproduziert. Er macht bewusst Fehler, und die Grenzen Europas beginnen, sich zu verändern und zu verzerren. Seine Art, die Politik der Gewalt wahrzunehmen, erinnert an eine Reihe von Gemälden von Gerhard Richter, der ebenfalls das Thema der Entfremdung anspricht. Indem er Bilder aus seinem persönlichen Fotoarchiv mit Malerei überlagert, zeigt er ein zerbrochenes Europa und stellt die Frage nach der Realität: Was ist interpretierte Realität? Handelt es sich lediglich um eine exakte Wiedergabe der Realität oder um eine abstrakte Darstellung, die der Künstler dem Betrachter zeigt? Richters Kunst zeigt, dass beides unweigerlich zusammenhängt und dass der Blick des Künstlers unsere Wahrnehmung der Welt entscheidend prägt. Richter selbst definiert Kunst als „den höchsten Grad der Hoffnung“.
Die Vision von Europa als einem entwickelten Kulturraum, in dem Einheit und Vielfalt gleichberechtigt existieren, ist Realität und Utopie zugleich. Europa ist eine Idee, die sowohl von der Vergangenheit als auch von der Zukunft genährt wird, es ist ein sich ständig weiterentwickelndes Projekt. Diesem Gedanken haben sich Ian Peimin mit seiner Serie über Napoleon und Anselm Kiefer, der von sich sagt, dass er gleichzeitig in der Vergangenheit und in der Zukunft lebt, angenähert. In der Installation The Winter Road setzt sich Kiefer kritisch mit dem Erbe der deutschen Romantik und der Aufklärung auseinander und stellt sie zwischen zwei Pole, mit Madame de Stael auf dem einen und der zur Terroristin mutierten deutschen Journalistin Ulrike Meinhof auf dem anderen. Es wird deutlich, dass die Vernunft in Gewalt umschlagen kann und das Gefühl in eisenrasselnden Militarismus.
Unsere Vergangenheit und Zukunft sowie Natur und Kreativität sind gegensätzliche Pole, zwischen denen sich das Wesen der Welt ausbreitet. Und wenn Kunst prinzipiell keine Grenzen hat, so liegen ihre Wurzeln im Ort des Entstehens, im persönlichen Erleben, in der inneren und äußeren Landschaft. Und das ist es, was den Künstlern begegnet, wenn sie zum Beispiel den Wald als Metapher für soziale Beziehungen betrachten. Die Arbeiten von Goshka Macuga und Olafur Eliasson stellen zwei Gegensätzlichkeiten dar – Macuga zeigt kompromisslos die Schäden an der Natur, während Eliasson einen spirituellen Raum schafft, der unsere Einwirkung auf die Natur zu neutralisieren scheint. Katya Novichkova erforscht in ihrer Skulptur den komplexen Kampf zwischen Globalisierung und Umwelt. In einer Zeit, die von der Coronakrise geprägt ist, beschäftigt sich die Künstlerin mit der Frage, wie sich infektionsübertragende Mikroorganismen über Ländergrenzen und politische Propaganda hinweg verbreiten.
Aus den Dialogen der Künstler in der Ausstellung ergibt sich: Es gibt ein anderes Europa als das, das wir aus den Nachrichten von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft kennen. „Diversity United“ ist keine Ausstellung von Errungenschaften, sondern ein Versuch, verschiedene Bilder der Welt nebeneinander zu stellen und Grenzen neu zu definieren. Jede Identität bewahrt eine Spur der Herkunft und der zurückgelegten Reise. Christian Boltanski sagte vor der Ausstellung: „In meinem Bewusstsein ist ein Teil griechisch, ein Teil korsisch, ein Teil tatarisch und ein kleiner Teil jüdische Ukraine. Das ist meine Essenz, und ich glaube nicht, dass es irgendjemanden auf der Welt gibt, der nicht die gleiche Mischung aus all den verschiedenen Ethnien und Nationalitäten aufweist.“ Solche Aussagen haben eine Grundlage, sie sind beweisbar, aber das macht die Kunst nicht weniger grenzenlos. Der norwegische Künstler Christian Krohg (1852-1925) bemerkte vor langer Zeit: „Alle gute Kunst ist national, und alle nationale Kunst ist schlechte Kunst.“
Die Ausstellung „Diversity United“ zeigt die Möglichkeiten der unterschiedlichsten europäischen Kulturschaffenden auf, die den Nationalismus weit hinter sich gelassen haben. Stattdessen wird die individuelle Persönlichkeit in den Vordergrund gestellt und Werte wie Offenheit, Toleranz, Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und Respekt vor anderen betont. Die Ausstellung beleuchtet verschiedene Aspekte der Identitätssuche und spielt dabei bewusst mit unterschiedlichen Haltungen. Wie definieren wir unsere Zugehörigkeit?
„Diversity United“ lädt uns ein, Identität als ein offenes System zu begreifen, das eine ständige gegenseitige Befruchtung zulässt. Ohne Vielfalt gibt es keine Einheit, und ohne Einheit kann es keine Vielfalt geben. Oder um es mit Günther Uecker zu sagen: „Die Kunst kann den Menschen nicht retten, aber mit den Mitteln der Kunst ist ein Dialog möglich, der die Menschen ermutigt, sich gegenseitig wertzuschätzen.“
Kuratorenteam: Simon Baker, Faina Balachowskaja, Kay Heymer, Pontus Kyander, Camilla Moreno, Johanna Neuschäffer, Anne Schwanz, Hilke Wagner, Peter Weibel
Zelfira Tregulowa
Zelfira Tregulowa, Direktorin der Staatlichen Tretjakow-Galerie, ist Hauptkuratorin der Ausstellung.
Walter Smerling
Walter Smerling, Vorsitzender der Deutschen Stiftung für Kunst und Kultur, ist Hauptkurator der Ausstellung.