Donnerstag, 21. November, 2024

‚Es ist fatal, Kultur für politische Zwecke zu instrumentalisieren’ – ein Interview mit der Leiterin des Goethe-Instituts Moskau

Von Galina Dudina

Heike Uhlig, Leiterin des Goethe-Instituts Moskau und der Region Osteuropa und Zentralasien über die anhaltende Nachfrage nach Deutschkursen und die Verunsicherung vieler Partner wegen des Gesetzes über „ausländische Agenten“

Das Goethe-Institut ist in Russland eine bekannte Marke. Aber nicht alle wissen, was genau Sie tun. Was also tun Sie?

Das Goethe-Institut ist das Deutsche Kulturinstitut. Die drei Säulen unserer Arbeit sind Sprache, Kultur, Deutschland. Zum einen vermitteln wir in Sprachkursen die deutsche Sprache und unterstützen das Lernen und Lehren von Deutsch an den Schulen in Russland. Zum zweiten fördern wir die internationale kulturelle Zusammenarbeit. Und drittens informieren wir über Deutschland, indem wir beispielsweise Literaturübersetzungen fördern und Bibliotheken mit Medien ausstatten; so wird ein vielseitiges und modernes Deutschlandbild vermittelt.

Diese drei Richtungen kann man nicht voneinander trennen, die Grenzen sind fließend. Wer sich für deutschen Film interessiert, kommt vielleicht irgendwann als Sprachkursteilnehmer ins Haus. Umgekehrt öffnet das Erlernen der Sprache den Weg zu Kultur und Literatur und zum Verständnis des anderen Landes.

Wer ist Ihre Zielgruppe in Russland, wer lernt Deutsch?

Auf Grundlage von Statistiken des Bildungsministeriums und unseren Erfahrungen und Schätzungen haben wir herausgefunden, lernen etwa 1,8 Millionen Russinnen und Russen Deutsch. Die Mehrheit von ihnen lernt an den Schulen Deutsch als Erst- oder Zweitfremdsprache. Das sind etwa 1,3 Millionen. An unseren Instituten hatten wir im vergangenen Jahr zirka 6000 Sprachkursteilnehmer. Das sind vor allem junge Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren, aber auch viele Kinder und Jugendliche, die beispielsweise unsere Sprach-Camps während der Ferien besuchen.

Sie haben auch selbst Russisch gelernt und in den 1980er-Jahren Slawistik in Potsdam und Rostow-am-Don studiert. Muss eine Institutsleiterin in Russland Russisch sprechen können?

Es ist keine Bedingung. Institutsleiterinnen und -leiter wechseln alle fünf bis sechs Jahre den Ort. Man müsste ein Sprachgenie sein, um immer wieder eine neue Sprache lernen zu können. Aber wenn man die Sprache des Landes spricht, fühlt man sich im Alltag ganz anders und kann mit Partnern anders sprechen.

Wir reden gerade Deutsch, sprechen Sie mit Ihren russischen Partnern oft Russisch?

Meistens ja. Oft spricht der Partner Russisch, ich spreche Deutsch, und man versteht sich trotzdem. Aber wenn es um Feinheiten geht, ist ein Dolmetscher doch hilfreich.

Ende 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre haben Sie bereits in Moskau gearbeitet. Jetzt sind Sie wieder da. Was hat sich verändert?

Erstmals in Moskau war ich 1981. Russland und Moskau haben sich seither enorm verändert. Ich glaube, dass viele Deutsche, die nach Russland kommen, überrascht sind, weil sie noch eine ganz andere Vorstellung haben.

Besonders aufgefallen ist mir, dass die Leute freundlicher geworden sind und rücksichtsvoller miteinander umgehen. Ein Lächeln wird erwidert, auch in öffentlichen Verkehrsmitteln, in der Metro. Besonders wo junge Leute arbeiten – in Museen, Cafés, Geschäften – hat sich die Atmosphäre verändert. Man hat das Gefühl, willkommen zu sein und viele sprechen auch Englisch und manchmal Deutsch.

Auch außerhalb von Moskau?

Bisher war ich in unseren Instituten in St. Petersburg und Nowosibirsk, außerdem in Perm, Jekaterinburg, Smolensk. Kleinere Städte, die in Russland oft Millionenstädte sind, haben eine andere Atmosphäre als die Hauptstadt, sie sind ruhiger und nicht so hektisch.

Wir haben in den Regionen neben unseren Instituten seit den 1990er-Jahren ein Partnernetzwerk aufgebaut. Es gibt 20 Sprachlernzentren, 16 Lesesäle sowie zahlreiche Kulturgesellschaften und Kontaktstellen, mit denen wir eng zusammenarbeiten.

Kürzlich teilte mir ein russischer Beamter mit, dass Partner aus den russischen Regionen für die Teilnahme an einer Konferenz von Partnerstädten in diesem Sommer in Deutschland für alle Fälle die Genehmigung des Kulturministeriums beantragt hatten. Sind Sie in den Regionen auf ähnliche Ängste gestoßen?

Die Nachfrage nach Deutschkursen ist ungebrochen. Viele lernen Deutsch, wollen eine Prüfung ablegen, aus beruflichen Gründen oder für ein Studium in Deutschland. Unser Partnernetzwerk ermöglicht gemeinsame Programme und Projekte. Wir spüren immer wieder eine große Offenheit und einen großen Wunsch nach Austausch von Erfahrungen.

Aber?

Aber wir spüren natürlich auch, dass viele Partner verunsichert sind. Seit 2012 gibt es in Russland ein Gesetz, wonach sich Organisationen als „ausländische Agenten“ registrieren müssen, wenn sie Geld von ausländischen Partnern erhalten. Das schafft Verunsicherung, die man in den Gesprächen spürt, die aber bisher unsere Arbeit nicht beeinflusst hat.

Im August 2018 sagte Ihr Präsident, Klaus-Dieter Lehmann, dass das Goethe-Institut und seine Partner in Russland, China und der Türkei unter Druck stünden. Betrifft der Druck in Russland Sie selbst oder mehr Ihre Partner?

Genau so hat es Klaus-Dieter Lehmann beschrieben: Unsere Partner sind verunsichert über die Gesetzeslage.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Institut bei der Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und Deutschland, Russland und Europa?

Als deutsches Kulturinstitut sind wir der internationalen kulturellen Zusammenarbeit und der Völkerverständigung verpflichtet. Das Goethe-Institut ist ein gemeinnütziger Verein und in seinem Programm und Engagement ein unabhängiger Akteur der Zivilgesellschaft. Wir orientieren uns also nicht am tagespolitischen Geschehen; das ist Aufgabe der Politiker und der Botschaft. Die deutsche Geschichte hat gezeigt, wie fatal es ist, Kultur für politische Zwecke zu instrumentalisieren.

Unser Bestreben sind gemeinsame Projekte. Beim Austausch und Kennenlernen und bei der langfristigen Zusammenarbeit entsteht Vertrauen. Dank langjähriger Beziehungen kann man auch schwierige Zeiten überstehen und versuchen, die andere Seite zu verstehen und Kompromisse zu finden. Das heißt nicht, dass man immer einer Meinung sein muss, aber man lernt vielleicht, warum die andere Seite eine andere Meinung vertritt.

In Russland wird derzeit über die Geschichte diskutiert, auch über die deutsch-sowjetische. Deutschland hat eigene Erfahrungen im Umgang mit seiner zum Teil schwierigen Vergangenheit. Darf man historische Erinnerungen immer wieder neu betrachten und bewerten?

Es ist wichtig, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, über Ereignisse und ihre Ursachen zu sprechen, darüber, wie Entscheidungen getroffen worden sind. Es ist wichtig, dass wir uns mit der Geschichte der eigenen Familie auseinandersetzten und mit der Geschichte des eigenen Landes – auf Grundlage von Dokumenten und möglichst vielen Quellen. Und natürlich entwickelt sich die Wahrnehmung der Geschichte im Laufe der Zeit.

Deutschland hat tatsächlich in dieser Frage viel geleistet, auch heute noch. Das ist anstrengende Arbeit. Da ist uns sicherlich etwas gelungen – wenn auch nicht ganz freiwillig, da wir gezwungen worden sind, uns mit diesem Thema und unserer Verantwortung auseinanderzusetzen.

Im Institut haben wir in diesem Jahr ein sehr wichtiges Projekt entwickelt, gemeinsam mit dem Verein Bessmertnyj Polk (Unsterbliches Regiment) in Perm und mit dem Historiker Karl-Heinz Ziessow aus Niedersachsen. Es geht um Kriegsgefangene. Weil die Archive zugänglicher geworden sind, konnten wir die Ausstellung „Erinnerungsbrücke: Rückkehr nach Hause“ erstellen. Sie zeigt das Schicksal von Kriegsgefangenen aus der Permer Region und was es für ihre Familien bedeutete, dass die Männer plötzlich verschwunden waren und viele nicht zurückgekommen sind.

Die Ausstellung wurde zunächst in Perm gezeigt und ist dann durch die Region gewandert. Bei der Eröffnung war ich sehr berührt über die vielen Besucher. Einige hatten Fotos von ihren Angehörigen und Dokumente bei sich. Sie wollten wissen, wie sie mehr über das Schicksal ihrer Väter und Großväter erfahren können.

Das wird nicht das letzte derartige Projekt sein. Wir alle haben eine große Verantwortung dafür, die Erinnerung wach zu halten. Ohne Erinnerungen, ohne Nachfragen über das Vergangene, können wir keine Zukunft gestalten.

Die Fragen stellte Galina Dudina, Reporterin bei Kommersant.