Samstag, 21. Dezember, 2024

Ein neuer Superkontinent Eurasien soll Chinas Wiederaufstieg zur Weltmacht vollenden und absichern, der Westen und Russland drohen zum Verlierer der großen Transformation zu werden

Von Katja Gloger

Korgas, Zentralasien. Karge Steppe. Im Sommer ist’s zum Stöhnen heiß, im Winter zum Zähneklappern kalt bei bis zu minus 40 Grad. Bis vor wenigen Jahren war der Flecken ein kleiner Posten an der kasachischen Grenze zu China . In der Nähe liegt der „Eurasische Pol der Unzugänglichkeit“, so weit von einem Meer entfernt wie kaum ein anderer Ort. Aber die Stadt entwickelt sich gerade zu einem der Knotenpunkte im Zentrum des eurasischen Kontinents. Von Investitionen in Höhe von 600 Millionen Dollar ist die Rede, für den „größten trockenen Hafen der Welt“; ein gewaltiges Logistikzentrum entsteht, ein Eisenbahnterminal, dazu eine Industrie- und Freihandelszone. Schon ist die Rede von einem „zweiten Dubai“. Innerhalb des kommenden Jahrzehnts soll Korgas Heimat für 100 000 Menschen und Kasachstans „Tor zum Osten“ werden.

Korgas’ Einwohner scheinen so hoffnungsvollen Zeiten entgegen zu gehen wie ganz Asien. Dort leben Milliarden Menschen, die vor allem eins anstreben: mehr Wohlstand für sich und ihre Kinder. Sind sie die Gewinner der Globalisierung?

Für China ist Khorgas eine von vielen Stationen des größten Infrastrukturprojekts aller Zeiten: der Belt and Road Initiative (BRI). Bis zu eine Trillion Dollar sollen in das „Projekt des Jahrhunderts“ fließen, wie es Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping nennt. In der BRI, den neuen Seidenstraßen , sehen die einen ein Werkzeug der Zukunft, die anderen eine Waffe im Ringen um globale Vorherrschaft, ein Megaprojekt, welches das chinesische Wirtschafts- und Herrschaftsmodell global absichern soll, jene für viele autoritäre Regime attraktive Mischung aus Staatskapitalismus und repressiver Macht.

In Korgas hat die staatliche chinesische Schifffahrtsgesellschaft COSCO in den geplant größten Trockenhafen der Welt investiert; Container sollen dort auf Eisenbahnwaggons statt auf Schiffe verladen werden – beladen zum Beispiel mit Wein und frischen Lebensmitteln aus Europa für chinesische Wohlstandsbürger. Aber noch ist fraglich, ob sich die Investitionen rechnen. Zwar verkürzt die chinesisch- kasachische Landverbindung den Weg zwischen China und Europa zeitlich um die Hälfte. Doch der Transport eines Containers über Land ist zehnmal so teuer wie per Schiff. Und die meisten chinesischen Waren gehen nicht nach Europa, sondern nach Usbekistan oder in den Iran. Aber Khorgos liegt ja auch nur an einer der vielen neuen Seidenstraßen . Nicht mehr – aber keinesfalls weniger.

Die Veränderungen könnten dramatischer kaum sein, tektonischen Verschiebungen gleich. Während sich die USA von ihrer Führungsrolle als Hüter und Nutznießer einer liberalen Weltordnung zumindest vorübergehend verabschieden, während Europa, die erodierende EU, verzweifelt um Einigkeit ringt und Deutschland, noch immer zu den weltgrößten Handelsmächten gehörend, vornehmlich politische Nabelschau betreibt, formt sich im Osten unaufhaltsam eine neue Ordnung, geographisch, politisch und ökonomisch.

Es geht dabei vor allem um die Kontrolle über Ressourcen und Handelswege, über Infrastruktur und Kommunikation. „Im 21. Jahrhundert werden es vor allem die Länder der Seidenstraßen sein, die wahre Bedeutung erlangen“, schreibt der britische Historiker Peter Frankopan in seinem Buch „Die neuen Seidenstraßen.“ „Der Westen ist am Steuerrad eingeschlafen und will aber zur ‚Normalität‘ zurückkehren. Die Emporkömmlinge sollen nun gefälligst wieder ihre alten Plätze in der Weltordnung einnehmen. Doch dies ist keine Welt, die ganz neu geboren wird; es ist eine alte Welt, die wiedergeboren wird. Und der Westen läuft Gefahr, immer irrelevanter zu werden.“

Den Begriff der Seidenstraße prägte Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Geograph Ferdinand von Richthofen nach ausgedehnten Forschungsreisen durch China für die Netzwerke, die das historische China einst mit der Welt verbanden. Auch für das heutige China umfassen die Silk Roads die ganze Welt. Sie versprechen „Win-Win“-Projekte zum Nutzen aller – allerdings zu chinesischen Bedingungen. Sie reichen bis nach Afrika, umfassen auch strategische Investitionen in Europa wie den Hafen von Piräus und ein ganzes Container-Terminal in Antwerpen. Pakistan soll der Transportkorridor zum Indischen Ozean sein, auch in Südamerika sollen Seidenstraßen verlaufen. Pläne gibt es auch für eine Seidenstraße in der Arktis: Dazu könnte das geplante 43-Milliarden-Dollar-Flüssiggas-Projekt zwischen China und dem US-Bundesstaat Alaska gehören – Präsident Trumps Handelskrieg zum Trotz.

Digitale Seidenstraßen sollen die globalen Datenströme bündeln, die Kommunikationswege geprägt von Hardware und Algorithmen am liebsten „Made in China“. Mithilfe des Medienprogramms „Belt and Road News Alliance“ soll eine neue Weltordnung der Information und Propaganda entstehen – unter Führung der KP Chinas.

Seidenstraßen erschließen lange vernachlässigte Regionen, etwa den Kaukasus, gerade einmal drei Flugstunden von Frankfurt entfernt; dort sind auch die fünf Staaten Zentralasiens, einst Sowjetrepubliken, der arme, von Moskau subventionierte Hinterhof der Sowjetunion.

In Zentralasien und im Kaukasus übrigens ließ sich einer schon vor zwölf Jahren seine „brand“ patentieren. Der Mann plante in Georgien den Bau glamouröser Kasinos, finanziert unter anderem durch die alles andere als unumstrittene „Silk Road Group“. Die Rede ist von Donald J. Trump.

Auch die Kaukasusrepublik Georgien will sich mit den neuen Seidenstraßen von russischen Abhängigkeiten befreien. Während Präsident Wladimir Putin die von ihm annektierte Halbinsel Krim zu einer waffenstarrenden Festung ausbauen lässt, hat man in der georgischen Schwarzmeerstadt Anaklia mit dem Bau eines Tiefseehafens begonnen; es soll der größte an der Schwarzmeerküste werden. Kredite dafür kommen unter anderem von der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank unter Führung Chinas. Damit will sich Georgien als kaukasische Handelsbrücke zwischen Europa und Asien etablieren, auch Richtung Türkei und Iran.

So formt sich Eurasien, jene gigantische Landmasse, die ein gutes Drittel der Erdoberfläche umfasst. Manche Definitionen schließen sogar noch den indo-pazifischen Raum von Indien bis Japan ein. Eurasien, ein neuer Superkontinent: Heimat von fünf Milliarden Menschen, wo 70 Prozent des globalen Wirtschaftsprodukts entstehen. Eurasien, Rohstoffreservoir der Welt: Öl und Gas, Holz, seltene Erden, Agrarflächen.

In Eurasien, so Samir Saran, Präsident des in Europa immer noch viel zu wenig beachteten indischen Think Tanks Observer Research Foundation, entscheide sich das Schicksal der demokratischen Welt. Entweder stelle sich die liberale Welt dem Vormachtstreben Pekings entschlossen und geschlossen entgegen, „oder Pax Sinica, die chinesische Weltordnung, wird sich entfalten“. Um nichts weniger ginge es als um die Spielregeln für die post-westliche Welt des 21. Jahrhunderts.

Auch aus russischer Sicht zerbricht die von den USA dominierte Ordnung unwiderruflich. Angebrochen sei eine gefährliche Zeit mit „hohem Kriegsrisiko“, argumentiert der Apologet russischer Geopolitik, Sergej Karaganow. In einem letzten, verzweifelten Aufbäumen wollten die USA den globalen Kampf um diese neue Weltordnung gewinnen. „America First“ bedeute nicht Rückzug, sondern das Gegenteil: „Die USA sind die revisionistische Macht!“ Doch „weder Russland noch China werden Juniorpartner der USA sein.“ Die russische Zukunft müsse in „Greater Eurasia“ spielen.

Keinesfalls möchte die russische Führungselite, dass ihr Land zum reinen Transportkorridor degradiert oder gar von neuen Seidenstraßen abgeschnitten wird, die aus China über Zentralasien und das Kaspische Meer nach Westen und Süden führen. Zwar wurde das symbolträchtige Projekt eines chinesisch finanzierten und betriebenen Hochgeschwindigkeitszugs ausgerechnet in die tatarische Hauptstadt Kasan an der Wolga von Moskau erst einmal abgelehnt. Zugleich erklärte Putin unlängst den Ausbau der Infrastruktur zum strategischen Ziel der Wirtschaftspolitik.

Und doch droht das scheinbar so mächtige Russland zu einem der Verlierer der großen Transformation zu werden, als Großmacht zweiter Klasse zurückzubleiben. Ökonomisch und technologisch stagniert das Land. Die Sanktionen des Westens beschleunigen den Prozess: Ausländische Direktinvestitionen in Russland betrugen 2018 ganze 15 Milliarden Dollar – ein Viertel dessen, was noch 2008 investiert wurde.

Wohl eher aus Notwendigkeit denn aus Überzeugung sucht die russische Führung den Schulterschluss mit China. Das historische Misstrauen bleibt, sowie die Erinnerung an die bewaffneten Zwischenfälle am Ussuri-Grenzfluss 1969. Es bleibt auch die Sorge über den wachsenden Einfluss Chinas vor allem im Osten Sibiriens, den Raubbau an Ressourcen – auch wenn die kriselnde russische Wirtschaft für chinesische Arbeiter nicht mehr sonderlich attraktiv ist.

Und doch nähern sich die beiden Staaten in strategischen Bereichen an, die Vorliebe für autoritäre Machtausübung teilen sie ohnehin. Putin bewundere Xi Jinping für seine Wirtschaftspolitik und Unnachgiebigkeit gegenüber den USA, heißt es. Xi wiederum schätze Putins militarisierten Patriotismus, mit dem er Russland gegen den Einfluss des Westens verteidige.

Chinesische Schiffe übten neben russischen Kriegsschiffen 2017 während eines Manövers in der Ostsee. Am russischen Großmanöver Vostok 2018 nahmen im vergangenen Jahr zum ersten Mal chinesische Soldaten teil, 3200 immerhin.

Noch exportiert Russland Waffen nach China, darunter Su-35-Kampfjets und das Luftabwehrsystem S-400. Chinesische Kredite – wenn auch zu knallhart kapitalistischen Zinshöchstsätzen – halfen russischen (Staats-) Unternehmen und Oligarchen auch aus Putins Entourage schon nach der Finanzkrise 2008 und auch seit 2014. Über die Pipeline „Die Kraft Sibiriens“ sichert sich Russlands Staatskonzern Gazprom in den kommenden 30 Jahren für 400 Milliarden Dollar Gasexporte nach China – wenn wohl auch zu Niedrigstpreisen. Denn wahr ist auch: Die russisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen ähneln kolonialen Handelsbeziehungen des 19. Jahrhunderts: 75 Prozent aller russischen Exporte nach China sind Rohstoffe; Chinas Exporte nach Russland wiederum bestehen zu 80 Prozent aus Konsum-, Elektronik- und Industriegütern.

Und doch sollte man weder in Europa noch in Washington die Annäherung unterschätzen. Die chinesische Führung gibt sich loyal, respektiert russische Interessen in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens, die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) und die militärische „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS). In Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan existieren russische Militärbasen. So bleibt Moskau „Polizist“ der Region, der „Farbenrevolutionen“ und islamistischen Extremismus verhindern sowie den Fortbestand der autoritär-diktatorischen Regime sichern soll.

Die USA und Europa tun sich schwer, eine Antwort auf die eurasische Herausforderung zu finden und sich in diesem neuen, asiatischen Jahrhundert zurechtzufinden. Eine gemeinsame Antwort wäre wichtig, ein Mindestmaß an Einigkeit. Ein Riss im Atlantik, sagte Henry Kissinger der Financial Times, würde Europa über kurz oder lang zu „einem Anhängsel Eurasiens“ machen, immer mehr gezwungen, sich an China auszurichten.

Die Realität aber ist: US-Präsident Trump fördert die Spaltung der EU nach Kräften und erklärt die Nato für obsolet. Und er führt einen Handelskrieg gegen China.

Man wisse um die strategische Bedeutung des indo-pazifischen Raums, beschwichtigte US-Außenminister Mike Pompeo im vergangenen Jahr. Man stelle 113 Millionen Dollar für neue Initiativen zur Verfügung. Aber das ist nicht mehr als die Nebeneinkünfte von Ivanka Trump und Ehemann Jared Kushner im Jahr 2017. Ansonsten dient die militärische Präsenz der USA im „freien und offenen Indo-Pazifik“ vor allem der Sicherstellung der auch für Europa überlebenswichtigen freien Schifffahrt von und nach China. Im Kerngebiet der neuen Seidenstraßen spielen die USA faktisch keine Rolle.

Die EU versucht, mit einer Strategie der „Konnektivität“, allumfassender Vernetzung, eurasischen Boden zu gewinnen. Ende 2018 wurde die „Strategy on Connecting Europe and Asia“ auf den Weg gebracht. Und in diesem Jahr soll endlich auch eine „Zentralasien-Strategie“ der EU verabschiedet werden. In Zentralasien will sich die EU als Wahlpartner für nachhaltige regionale Entwicklung positionieren, ökologisch und fair, auf westlichen Grundwerten basierend. Sie will die Wasserressourcen sichern, Stromtrassen ziehen, Windparks errichten und digitale Infrastruktur liefern – und auch die Zivilgesellschaft fördern, Schulbildung für Mädchen, Studentenaustausch und Rechtsstaatlichkeit. Eine Milliarde Euro stellen die EU-Kommission und ihre Mitgliedsstaaten zur Verfügung. Damit sei man „größter Geber in der Region“.

Nach offiziellen Angaben hat China in den vergangenen fünf Jahren mehr als 300 Milliarden Dollar allein in die Ökonomien Zentralasiens investiert. Allerdings, die Nachteile liegen auf der Hand. Da ist die strategische Abhängigkeit von China beim Export von Rohstoffen; die Gasexporte Turkmenistans etwa gehen nahezu ausschließlich nach China. Dabei entstehen „debt traps“, Schuldenfallen durch hohe chinesische Kredite für sinnlose Prestigeprojekte, die nicht zurückgezahlt werden können. Die Türen für Korruption und Vetternwirtschaft stehen in autoritären Regimen ohnehin weit offen.

Es gibt zudem lokale Proteste; Bauern fürchten den Ausverkauf der Agrarflächen an chinesische Pächter: „Wenn die Chinesen kommen, folgt die Apokalypse“, lautet ein kasachisches Sprichwort. Doch Chinas wachsendes Engagement im Herzen Eurasiens „ist langfristig angelegt, es stellt einen Wendepunkt in der Entwicklung der zentralasiatischen Staaten dar“, so Marlene Laruelle, Leiterin des Zentralasien-Programms der George Washington Universität in Washington, D.C.

Gemeinsame europäisch-chinesische Projekte in der Region könnten Zentralasiens Entwicklung vielleicht auch in europäischem Sinne befördern, heißt es. Dazu könnte etwa die faire Finanzierung qualitativ hochwertiger Infrastruktur, ökologische Nachhaltigkeit und Transparenz gehören. Erste westliche Regierungen haben mit China Abkommen über „Marktkooperation mit Dritten“ abgeschlossen, darunter Frankreich, Spanien und Italien, auch Kanada und Japan.

So entstehe eine „win-win-win“-Situation, heißt es in Peking wohlwollend. Es gelte, „Arm in Arm in eine helle Zukunft zu marschieren“, erklärte Xi Jinping auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos 2017. „Geschichte wird von den Tapferen gemacht.“ Es gilt, im Guten wie im Schlechten, für alle, die sich auf die neuen Seidenstraßen wagen.

Katja Gloger
ist Autorin des Magazins Stern und langjährige Korrespondentin in Moskau. 2018 ist ihr Buch „Fremde Freunde“ erschienen, das über die tausendjährige, schicksalhafte Beziehung zwischen Deutschen und Russen erzählt.

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