Die Sprache der Panzer: Der Aufstand in Ost-Berlin im Jahr 1953 und die Ängste der Machthaber führten zur endgültigen Spaltung Deutschlands und hätten beinahe einen neuen Krieg in Europa provoziert
Nach 1945 hatten die Deutschen die Wahl: In den ersten Jahren der Existenz von DDR und BRD konnten sie von einem Teil Deutschlands in den anderen reisen, vom Sozialismus in den Kapitalismus und umgekehrt. Die meisten gingen in den Westen, aber der eine oder andere entschied sich auch für den Osten. Braucht Deutschland den Sozialismus? Damals beantworteten viele diese Frage mit Ja.
Eine Zeitlang entwickelten sich die DDR und die BRD parallel, wie Zwillinge, die man in der Kindheit getrennt hatte. Aber wo war der Scheideweg? Wo hat der eine Zwilling einen Fehler begangen und sich für die Sackgasse entschieden? War es der Moment, als die ostdeutsche kommunistische Partei, die SED, sich das Macht-Monopol gesichert hatte? Oder als die vollständige Verstaatlichung und Zwangskollektivierung vollzogen wurde? Aber damals konnte niemand wissen, wozu eine solche Umgestaltung der Wirtschaft führen würde. Wann also ist das neue Regime zu dem geworden, was es war? Dieser Moment lässt sich auf den Tag genau bestimmen: Es war der 17. Juni 1953.
In den ersten Tagen des Mai 1953 erreichte die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) eine Sondermitteilung aus der sowjetischen Vertretung in der DDR, die von ernsthaften Problemen im sozialistischen Teil Deutschlands berichtete. Die Hauptsorge: Die Ostdeutschen flohen in den Westen. In den ersten vier Monaten desselben Jahres hatten 120 000 Menschen die DDR verlassen. Das Problem sei nicht allein auf die Wirkung der „feindlichen Propaganda“ zurückzuführen, hieß es in dem Bericht, sondern auch auf eine verfehlte Wirtschaftspolitik und Versorgungsengpässe.
Auf einem Plenum des Zentralkomitees der SED zum 135. Geburtstag von Karl Marx im Mai 1953 rief der ZK-Generalsekretär Walter Ulbricht dazu auf, den Kampf gegen den Klassenfeind zu intensivieren; er schlug vor, die Arbeitsnormen um 10 Prozent zu erhöhen. Die Arbeitslöhne brachen ein. Das brachte das Fass zum Überlaufen.
Am 31. Mai 1953 trat die Belegschaft des Sachsenwerks in Niedersedlitz in einen zweitägigen Streik, um gegen die Normerhöhung zu protestieren. Die Direktion ruderte zurück. Am 9. Juni verkündete die SED ihren „neuen Kurs“. Doch es war zu spät. Am 10. Juni organisierten 2000 Metallarbeiter in Hennigsdorf am Rande Ost-Berlins einen umfassenden Streik, am 13. Juni legten auch die Arbeiter der Maschinenfabrik Gotha die Arbeit nieder. Die Führung der DDR war ratlos. Ihre eigene Basis – die Arbeiter – lehnte sich gegen die neue Regierung auf. Die Forderungen waren rein ökonomischer Natur. Aber als die unmittelbare Antwort ausblieb, wurden die Losungen der Aufständischen politisch.
Die Berliner Arbeiter wandten sich in einem empörten Schreiben an Ministerpräsident Otto Grotewohl. Als Reaktion darauf entsandte man am 16. Juni Gewerkschaftsfunktionäre, die Überzeugungsarbeit leisten sollten. Das wirkte wie Sprengstoff. In Ost-Berlin begann ein Aufstand, der schnell auf andere Städte übersprang.
Als erste legten 80 Bauarbeiter an der Stalinallee, die zur Vorzeigestraße des sozialistischen Berlins werden und den Kurfürstendamm in den Schatten stellen sollte, aus Protest gegen die schweißtreibenden Arbeitsmethoden und die Lohnkürzungen die Arbeit nieder. Den Bauarbeitern schlossen sich Hunderte von Arbeitern und Hausfrauen an. Die Straßenbahnen standen. Fahrer, Schaffner und Passagiere reihten sich in den Demonstrationszug ein. Mit jedem Straßenviertel wurde die Kolonne größer. Sie bog zur Baustelle an der Staatsoper ein. Weitere 500 Bauarbeiter legten ihre Arbeit nieder. Studenten der Humboldt-Universität kamen aus ihren Hörsälen und schlossen sich den Demonstrierenden an.
Die Kolonne passierte siegessicher die sowjetische Botschaft Unter den Linden und zog weiter über die Wilhelmstraße zum Haus der Ministerien. Zu diesem Zeitpunkt zählte die Kolonne an die 5000 Menschen. Die Sicherheitsleute am Haus der Ministerien wichen in den Hof zurück und verschlossen die Eisentore. Die Menge rief: „Wir wollen Grotewohl! Wir wollen Spitzbart sehen!“ So nannte man im Volksmund Walter Ulbricht. Doch weder der Ministerpräsident der Volksregierung Otto Grotewohl noch der Generalsekretär der Arbeiter- und Bauernpartei Ulbricht folgten dem Ruf der Arbeiter.
Als die Menge weiterzog, versuchte die Polizei sich ihr in den Weg zu stellen. Ohne Erfolg. Die Menschen bildeten eine Kette und gingen mit Nachdruck voran. Aus einem Lautsprecherwagen versuchte man sie zum Auseinandergehen zu bewegen – man habe die Normerhöhungen doch bereits zurückgenommen. Doch die Demonstranten kaperten das Fahrzeug und zogen, politische Losungen skandierend, zurück in Richtung Stalinallee. Es begann zu regnen. Aber die Menschen standen weiterhin in Gruppen zusammen oder diskutierten das Geschehen in den Kneipen. Bis zum Abend hatte sich der Generalstreik auf ganz Ost-Berlin ausgeweitet. Am nächsten Tag war er zu einem Volksaufstand angewachsen.
Durch rund 200 Städte und Ortschaften Ostdeutschlands zogen Demonstrationen. Die Forderungen bekamen schnell politischen Charakter. Man verbrannte rote Banner, Stalin-Porträts und Parteizeitungen, schloss Gefängnisse auf und befreite die Häftlinge. Die Polizei beobachtete machtlos die Kolonnen von Demonstrierenden, die freie Wahlen forderten.
In Magdeburg stürmten Aufständische die Bezirksleitung der FDJ und warfen Porträts von Stalin, Grotewohl und Ulbricht aus den Fenstern. Im Bahnhofsgebäude riss man das Schild der innerdeutschen Grenzkontrolle ab und verkündete, Deutschland sei ein Land. Als sich Polizisten einzumischen versuchten, wurden ihnen die Gewehre abgenommen und die Beamten selbst in ihrem Dienstraum eingesperrt.
Die Menge zog weiter zum Polizeipräsidium im Zentrum der Stadt. Dort wurde vom Dach des Gebäudes das Feuer eröffnet. Als sich bereits an die 20 000 Menschen um das Gebäude versammelt hatten, tauchten 20 sowjetische Kampfpanzer auf. Sie rollten mitten in die Menge, aber auch das konnte die Menschen nicht auseinandertreiben.
Am 18. Juni kam in Washington der Nationale Sicherheitsrat zu einer Sitzung zusammen. Die Amerikaner waren sich des Ausmaßes des Geschehens bewusst geworden. Doch die Beteuerungen der US-Politiker, man müsse die „versklavten Völker aus dem sowjetischen Joch befreien“, waren bloße Rhetorik. Die US-Regierung war sich im Klaren: den Berlinern Waffen zu geben, würde einer Kriegserklärung gleichkommen.
Die Führungsriege der DDR geriet in Panik und bat die sowjetischen Genossen, ihre Familien nach Moskau in Sicherheit zu bringen. Der Hochkommissar der UdSSR, Wladimir Semjonow, ließ sie in das Militär-Stabsquartier in Karlshorst kommen. Die Autos mit den Mitgliedern des Politbüros rasten durch Straßen voller aufgebrachter Menschen. Die Menge drohte ihnen mit Fäusten.
Besonders eindrucksvoll war der Marsch der 4000 Arbeiter des Metallwerks Hennigsdorf. In geschlossen Reihen zu je acht Mann zogen sie in öldurchtränkter Arbeitskluft durch die Straßen. Es nieselte, das Wasser lief ihnen über die Gesichter. Einige waren barfuß, andere trugen Holzschuhe. Sie liefen fast 20 Kilometer weit. Tausende von Menschen begrüßten sie, steckten ihnen Butterbrote zu, kauften ihnen von ihrem eigenen Geld Zigaretten und Schokolade.
Gleichzeitig zogen 6000 Eisenbahner in die Berliner Innenstadt. Straßenbahnen, Busse und U-Bahnen standen still. Gegen 12.30 Uhr mittags hatten sich fast 50 000 Menschen auf dem Schlossplatz versammelt, der damals Marx-Engels- Platz hieß. Die Bürger der DDR forderten freie Wahlen, die deutsche Einheit und den Abzug der Sowjettruppen. Und da tauchten die sowjetischen Panzer auf.
Das sowjetische Militärkommando verhängte den Ausnahmezustand. Die Soldaten verhielten sich zunächst diszipliniert, schossen nur im äußersten Fall. Die Deutschen beschimpften die Soldaten mit „russische Schweine“, bewarfen die Panzer mit Steinen, steckten Eisenstangen in die Ketten, schoben Ziegelsteine in die Rohrmündungen, brachen Radioantennen ab. Doch als die Maschinengewehre auf den Panzern zu sprechen begannen, stoben sie auseinander.
Hochkommissar Semjonow hatte die Weisung, Standgerichte zu bilden, Rädelsführer zu erschießen und die Nachricht über Flugblätter in der Stadt zu verbreiten. Um 2 Uhr nachmittags trat Otto Grotewohl im Radio auf. Er verkündete, der Aufstand sei von „faschistischen und anderen reaktionären Elementen aus West-Berlin“ provoziert worden.
Die sowjetischen Machthaber fürchteten, der Westen könnte den Aufstand für sich nutzen und den Krieg erklären. Aber Kommissar Semjonow und Marschall Sokolowski konnten die Genossen in Moskau beruhigen: Man habe die Straßen von Berlin von den Demonstranten befreit. Nichtsdestotrotz dauerte der über den ganzen sowjetischen Sektor verhängte Ausnahmezustand 24 Tage an.
Drei Wochen nach dem Aufstand in Berlin zogen die Mitglieder des Politbüros in einer nächtlichen Sitzung den Generalsekretär zur Rechenschaft. Der Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, verlangte die Wahl eines neuen Parteichefs.
Ulbricht beteuerte, seinen Kurs zu ändern. Dann zog er sich zurück und harrte der Entscheidung aus Moskau. Seine Stunden schienen gezählt. Doch die sowjetische Führung, alarmiert durch den Aufstand, zog es vor, die DDR in Ulbrichts fester Hand zu belassen. Sein hartes und unnachgiebiges Vorgehen hatte Eindruck gemacht. Man wollte lieber keine großen Veränderungen in einem Land riskieren, das beinahe aufgehört hätte zu existieren.
Ulbricht wusste, dass seine Karriere kurz vor dem Aus stand. Seine Rettung war eine Einladung nach Moskau am 20. August 1953. Die Führungsriege der DDR kehrte mit einem großen Sack voller Geschenke zurück: Ende der Reparationszahlungen und Erlass der gesamten Schulden; die Ausgaben der DDR für den Unterhalt der sowjetischen Besatzungsmächte wurden gesenkt, 33 gemeinsame Produktionsstätten der DDR überlassen. Darüber hinaus sagte Moskau einen üppigen Kredit und weitere Lebensmittellieferungen zu.
Nichtsdestoweniger fand noch im Herbst 1953 eine Reihe von Prozessen statt – gegen „westliche Agenten“, die den Aufstand angeblich angezettelt hatten.
Vor dem Aufstand am 17. Juni war den Deutschen die Wahl zwischen DDR und BRD nicht leicht gefallen. Die Panzer, die im Sommer 1953 die demonstrierenden Arbeiter auseinanderjagten, halfen bei der Entscheidung. Das Regime, das sein eigenes Volk gewaltsam niedergerungen hatte, hatte sein wahres Gesicht gezeigt.
Nach 1953 verlief die Migration nur noch in eine Richtung – in den Westen. Die Regierung der DDR versuchte, die Flüchtenden aufzuhalten. Bis zur Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961 hatte Ostdeutschland drei Millionen seiner Staatsbürger verloren. Das Regime lief Gefahr, bald ohne Volk dazustehen.
Die Mauer setzte der Massenflucht ein Ende. Aber jetzt fühlten sich die Bürger der DDR wie Gefangene in einem riesigen, mit Stacheldraht umzäunten Lager. Der Versuch, die Mauer zu überwinden, kostete viele das Leben.
Innerhalb des sowjetischen Systems war die DDR ein Vorzeigeprojekt. Aber im direkten Vergleich zur BRD hatte sie keine Vorteile. Ihre Wirtschaft entpuppte sich als ineffektiv und nicht konkurrenzfähig, selbst die Qualitäten der deutschen Arbeiter konnten diese Schwäche nicht ausgleichen. Wohl allein in Wandlitz, dem Villenviertel der Partei-Elite, war der Sozialismus von Erfolg gekrönt.
Leonid Mletschin
ist ein vielfach ausgezeichneter russischer Print- und Fernsehjournalist sowie Autor zahlreicher Bücher, darunter zeithistorische Werke und eine Breschnew-Biografie. Er lebt in Moskau.