Deutsche Welle: Nicht genehme Aktionen
Die Nichtzulassung fast aller Oppositionskandidaten zur Wahl der Moskauer Stadtduma führte in der russischen Hauptstadt im August zu Massenprotesten. Tausende Menschen nahmen an genehmigten und nicht genehmigten Aktionen auf dem Sacharow-Prospekt, dem Twerskaja-Platz, dem Boulevardring und anderen Moskauer Straßen teil. Die meisten der nichtgenehmigten Versammlungen endeten mit Massenverhaftungen, Hunderte von Demonstranten wurden in die umliegenden Polizeireviere verbracht. In den meisten Fällen wurde eine mehrtägige Ordnungshaft verhängt.
Ziemlich schnell nahmen die Proteste internationale Dimensionen an. Marija Sacharowa, Leiterin der Abteilung für Information und Presse des Außenministeriums der Russischen Föderation, warf dem Botschafter der USA und der Deutschen Welle (DW) Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands vor. Später wurden gleichlautende Vorwürfe in der Staatsduma und im Föderationsrat wiederholt.
Anlass waren Berichte in den sozialen Medien, die zur Teilnahme an ungenehmigten Aktionen aufriefen und Informationen über Zeit und Ort der Aktionen verbreiteten. Bei der DW ging es um einen Tweet.
Beate Grzeski, ständige Vertreterin des deutschen Botschafters, wurde zu einem Gespräch ins Innenministerium bestellt. Die Duma setzte eine Kommission zur Klärung der ausländischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands ein.
Die Reaktion der russischen Regierung ist erklärbar. Die DW hat, noch aus sowjetischen Zeiten, in Russland eine zwiespältige Reputation. Wie auch Voice of America und BBC betrachtete die sowjetische Regierung sie als „Stimme des Feindes“ und schränkte ihre Sendungen auf dem Gebiet der UdSSR ein.
Für den Kreml ist die DW kein gewöhnliches deutsches Medienunternehmen, wie etwa Der Spiegel oder die Süddeutsche Zeitung. Die Sendeanstalt finanziert sich aus staatlichen Mitteln und untersteht der Rechtsaufsicht durch die Bundesregierung. All das bewirkt, dass russische Beamte die Publikationen des Senders als so etwas wie offizielle Verlautbarungen aus Berlin missverstehen oder gar als mehr oder weniger Propaganda der deutschen Regierung. Darauf reagieren sie sehr emotional.
Vor einem Jahr war die DW schon einmal unter den kritischen Beschuss von Sacharowa geraten. Damals ging es um die Ankündigung eines Interviews mit Natalia Kaplan, einer Cousine des Filmregisseurs und Regimekritikers Oleg Senzow. Sie sah darin einen Affront gegenüber der russischen Regierung. Der Föderationsrat wollte daraufhin die Tätigkeit der DW auf Übereinstimmung mit den russischen Gesetzen überprüfen und ihr im Fall eines Verstoßes die Sendelizenz entziehen. Da die DW ihre Arbeit fortsetzen konnte, hat sich offenbar nichts Gesetzwidriges feststellen lassen, oder die angekündigte Überprüfung hat gar nicht stattgefunden.
Sind die Befürchtungen von russischer Seite gerechtfertigt? Die Epoche des Informationskriegs hat einen spezifischen Wettbewerb der Festungen und Belagerungswaffen ausgebildet. Russland ist sicher nicht der einzige Staat, der versucht, sich gegen Aggressionen im Medienbereich zu schützen. Aber wer Schutzwände errichtet, lässt sich womöglich dazu hinreißen, gleich auch noch die Tore zuzumauern.
Man kann nicht behaupten, dass die DW in Russland ein besonders populäres Medium wäre, nicht einmal unter den Anhängern der Opposition. Gerade für die jüngeren unter ihnen ist die DW ein Relikt aus der Epoche des Kalten Kriegs und der Dissidentenbewegung. Ihr Twitter-Account (der speziell im Fokus der russischen Regierung steht) zählt 186 000 Follower. Zum Vergleich: Der Account von „Radio Swoboda/ Radio Free Europe/ Radio Liberty“ hat 298 000 Follower, der Account des russischen Ersten Kanals mehr als 3 Millionen, der von Russia Today in russischer Sprache 859 000.
Es trifft zu, dass die DW über die Aktionen der außerparlamentarischen Opposition berichtet, aber sie enthält sich in der Regel der direkten Unterstützung. Auf Alexei Nawalnys Internetseite konnte man nur einen einzigen Link zu den Publikationen der DW finden. In seinen Tweets während der ersten Augusthälfte, der aktivsten Zeit der Proteste, setzte der Oppositionspolitiker insgesamt nur drei Reposts von Publikationen der DW.
Die Anhänger der russischen Opposition haben wenig Vertrauen in die staatlichen Medien. Trotzdem sind nur wenige von ihnen bereit, den Empfehlungen der ausländischen Medien ohne weiteres zu folgen, und schon gar nicht werden sie, nur auf einen Aufruf in den sozialen Medien hin, eine ungenehmigte Protestaktion aufsuchen.
Die eigentliche Mobilisierungskraft haben die persönlichen Tweets der Aktivisten und prominenten Persönlichkeiten, die Positionierungen der Meinungsführer, die Internetcommunitys und Internetseiten. Auch wenn die Demonstranten vielleicht auf eine gewisse Unterstützung aus dem Ausland hoffen, von den ausländischen Medien mit ihrer festen redaktionellen Politik und ihrer relativ geringen Popularität erwarten sie das zuletzt.
Die harte Reaktion der russischen Regierung scheint ein wenig überzogen. Es hat ohne Zweifel seine Berechtigung, die moderne Informationssphäre als Kampfarena des „neuen Kalten Kriegs“ zu betrachten. Die Schwierigkeiten, mit denen die Mediengruppe Russia Today in Deutschland konfrontiert ist, bezeugt, dass der Westen nicht immer offen ist für die unbegrenzte Informationsfreiheit.
Doch die Politik der radikalen Maßnahmen ist selten effektiv. Die kasernenhafte Sauberkeit des medialen Raums ist genauso bedenklich wie unbegrenzte Freizügigkeit. Unter den Bedingungen völliger Informationssterilität kann sich keine Immunität gegenüber Provokationen herausbilden. Wenn die Bürger bereit wären, ihre Regierung zu stürzen, nur weil ein Tweet einer internationalen Mediengesellschaft sie dazu aufruft, wäre das ein Symptom für ernsthafte Probleme nicht in den Medien selbst, sondern in der Gesellschaft und im Staat.
Die Erfahrungen der Sowjetunion im Umgang mit der DW und anderen „feindlichen Stimmen“ kann man kaum erfolgreich nennen. Die gesetzliche und technische Einschränkung der Radiosendungen hatte den Effekt der verbotenen Früchte und steigerte automatisch deren Wertigkeit. Die Sendungen der DW fanden schließlich doch ihre Hörer, die der Zugang zu verbotenen Wahrheiten lockte. In Krisensituationen wie dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan und der Katastrophe in Tschernobyl wurde die Wahrnehmung der offiziellen Position der sowjetischen Regierung im Landesinneren durch die Informationen der ausländischen Sendeanstalten relativiert.
Die Einschränkung der Sendetätigkeit oder die Blockierung der Internetseiten der DW auf russischem Territorium ist als Maßnahme zum Schutz des Informationsraums illusorisch. Derartige Methoden laufen das Risiko, die Mediensphäre zu neuer, noch schärferer Auflehnung zu provozieren.
Mit der Einbestellung der deutschen Botschaftsvertreterin in das russische Innenministerium betrachtete man dort diesen Fall als erledigt. Die DW behielt ihre Politik bei und stabilisierte ihre Stammhörerschaft. Dieser Status quo ist für alle bequem.
Es klingt vielleicht naiv, aber das beste Mittel, sich gegen Informationsattacken zu schützen, ist, keine Gründe dafür zu geben. Das gewaltsame Auflösen von Demonstrationen liefert nur das klassische Bild eines Staats, der seine Bürger autoritär unterdrückt.
Es stellt sich die Frage: Wenn es zu solchen Extremreaktionen schon in Zusammenhang mit der politisch nicht allzu bedeutsamen Moskauer Duma geht, wie wird man dann erst bei den nächsten Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen vorgehen?
Währenddessen kann die moderne Mediensphäre Anlässe für Informationsattacken auch auf höchst schwankendem Boden generieren. Bedauerlicherweise verhalten sich russische und westliche Medien, wenn sie mit Provokationen zu tun haben, in den meisten Fällen eher wie prinzipielle Gegner denn als Kollegen. Bis zur weihnachtlichen Waffenruhe oder gar einer Verbrüderung an der Informationsfront ist es noch sehr weit.
Artem Sokolov ist Dozent am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO).
Artem Sokolov
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO-Universität).