Der Kulturgutraub durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg
Ganz entzückt notierte der deutsche Kunsthistoriker Werner Körte während des Kriegs in der durch die Wehrmacht besetzten russischen Stadt Pskow einige einfühlsame Sätze über ein Gemälde. „Ein süßes Gesichtchen (…), in marmorner Klarheit die Form, aber doch warmer Teint, von dem die schwarzen Löckchen kräftig abstehen. Klassische Nase und feiner sinnlicher Mund. Die warm schimmernde Brust ist weit herab entblößt, (…) Die zarte rechte Hand hält eine seidene himmelblaue Schärpe (…) vor die Brust. Es war beglückend, wochenlang mit diesem Bild zusammenzuleben.“
Körte, als gewöhnlicher Soldat an die Front bei Leningrad beordert, wurde im Sommer 1942 für wenige Wochen abkommandiert, um für den „militärischen Kunstschutz“ im Museum von Pskow zu sorgen. Dort hatte Ernstotto Graf zu Solms-Laubach, im zivilen Leben Direktor des Frankfurter Historischen Museums, ein Depot eingerichtet, in dem die Kunstschätze aus dem Gebiet der Heeresgruppe Nord eingelagert, verzeichnet und teilweise ausgestellt wurden, darunter wertvolle Ikonen aus Nowgorod, Möbel, Porzellan und Gemälde aus den Zarenschlössern bei Leningrad, Kirchenschätze aus Tichwin und dem Kloster von Petschory.
Das beschriebene Gemälde einer „unbekannten Schönen“ aus der Sammlung von Schloss Gattschina gehörte dazu und wird bis heute vermisst. Andere Objekte aus dem Depot in Pskow überstanden die Kriegszeit und sind heute wieder an ihren Herkunftsorten.
Insgesamt hat Russland, wie auch die Ukraine und Belarus, immer noch einen großen Verlust an Kulturgütern zu beklagen, etwa eine Million Sammlungseinheiten. Hinzu kommen die durch Kriegseinwirkung unwiederbringlich zerstörten Kultur- und Architekturdenkmäler.
In Deutschland ist dies in der öffentlichen Wahrnehmung sehr viel weniger präsent als das Thema „Beutekunst“, also der Abtransport deutscher Kunstwerke durch sowjetische Trophäenbrigaden nach Kriegsende. In einem deutsch-russischen Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse jetzt in Buchform erschienen, wurde diese Lücke geschlossen, die Geschichten ausgewählter russischer Museen und ihrer Sammlungen im Krieg rekonstruiert und im Detail erzählt.
Was geschah mit den Kunst- und Kulturgütern, die sich in Museen und Kirchen im Bereich der Heeresgruppe Nord befanden, als die deutschen Truppen einmarschierten? Gab es Pläne, sie nach Deutschland abzutransportieren, sie vor Ort in Sicherheit zu bringen? Oder galt ihnen angesichts des geplanten Vernichtungskriegs nur wenig Aufmerksamkeit? Welche Rolle spielten Plünderungen? Was konnte noch vor Einmarsch der Deutschen evakuiert werden? Gibt es neue Erkenntnisse zur Geschichte des Bernsteinzimmers aus dem Katharinenpalast in Puschkin bei Leningrad – dem Symbol der russischen Kunstverluste überhaupt?
Tatsächlich dient das Wissen über den Abtransport des Bernsteinzimmers nach Königsberg im Herbst 1941 als Ausgangspunkt für weitere Forschungen. Seit Langem ist bekannt, dass Graf zu Solms-Laubach den Abbau gemeinsam mit einem weiteren Kunsthistoriker und einer Baubrigade vollzog.
Aber in welcher Funktion und in wessen Auftrag handelte er? Einen unmittelbaren Befehl erhielt Solms-Laubach vom Oberkommandierenden der 18. Armee, General von Küchler. Dieser folgte damit dem auf höheren Ebenen abgestimmten Plan, Kunstwerke deutscher Herkunft ins Deutsche Reich bringen zu lassen.
Im Fall des Bernsteinzimmers geschah dies nicht unter Geheimhaltung. Im Gegenteil: Die deutschen Zeitungen berichteten mit Stolz von der „Rettung“ des Zimmers und der folgenden Ausstellung im Königsberger Schloss.
Es folgte eine Propagandaschlacht. Die Deutschen sahen sich als Vertreter einer Kulturnation, aus sowjetischer Sicht erschienen sie als kulturlose Barbaren, Brandschatzer und Räuber. Hätte sich die Verlagerung von Kunstgütern aus umkämpften in ruhigere Besatzungsgebiete als Schutzmaßnahme noch rechtfertigen lassen, so galt dies nicht für den massenhaften Abtransport ins Deutsche Reich.
Bei der Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion hatten Fragen der Kunst nur wenig Bedeutung. Erst später scheint deutlich geworden zu sein, dass auch an der Ostfront Kulturgüter zu schützen waren, nicht zuletzt, weil höhere Parteistellen, SS-Leute und Soldaten der Wehrmacht sich wahllos Kunstgüter aneigneten, während andere im Kampfgeschehen zerstört wurden.
Tatsächlich gibt es in den Dokumenten zuhauf Hinweise auf Diebstahl und Plünderungen. Belegt ist der Raub eines der vier schweren Florentinischen Steinmosaiken aus dem Bernsteinzimmer noch vor dem offiziell angeordneten Abbau durch Solms. Das wertvolle Mosaik wurde 1997 in einem Privathaushalt in Bremen gefunden und an die Russische Föderation restituiert.
Auch für die 1998 aus Berchtesgaden nach Pskow zurückgegebene wundertätige Ikone der „Muttergottes von
Pskow-Pkrow“ muss angenommen werden, dass sie 1941 in den ersten Wochen nach Einnahme der Stadt entwendet wurde. Nicht zu unterschätzen ist auch die Zahl kleinerer Kunstgegenstände und Ikonen, die Soldaten als geeignete Souvenirs betrachteten und mitnahmen.
Angesichts dieser unkontrollierten Situation setzte General von Küchler Solms-Laubach als Kunstschutzoffizier zunächst der 18. Armee, später der Heeresgruppe Nord ein. Solms-Laubach baute sich einen kleinen Arbeitsstab im Pogankinhaus auf, dem Museum von
Pskow. Als Mitarbeiter beschäftigte er einige deutsche Kunsthistoriker, die sich bereits als Soldaten im Einsatzgebiet befanden. Aber auch russische Spezialisten arbeiteten mit, so der Archäologe und Ikonenkenner Wassilij Ponomarjew und die Restauratorinnen Natalja und Tatjana Hippius aus Nowgorod. Sie waren die Schwestern der bekannten russischen Lyrikerin Sinaida Hippius, die seit 1922 in Paris in der Emigration lebte.
Im Oktober 1941 ließ Solms-Laubach neben dem Bernsteinzimmer zahlreiche Gemälde und Möbelstücke aus den Zarenschlössern von Puschkin, Gattschina und eventuell Pawlowsk nach Königsberg abtransportieren. Die Rede war von fünf gefüllten Eisenbahnwaggons.
Es gab zwei weitere kunsthistorisch bedeutende Objekte, die ursprünglich aus Deutschland stammten, aber beide von den russischen Zaren gekauft worden waren: der Neptunbrunnen im oberen Park von Schloss Peterhof und der Gottorfer Globus, der ursprünglich in der Petersburger Kunstkammer gestanden hatte, sich aber vor dem Krieg in einem Pavillon im Park des Katharinenpalasts befand.
Der Neptunbrunnen wurde abgebaut und an seinen ursprünglichen Herkunftsort Nürnberg gebracht. Der begehbare Globus von drei Metern Durchmesser gelangte in einer umständlichen Transportaktion nach Holstein. Beide Kunstwerke kehrten nach dem Krieg nach Russland zurück.
Von Frühjahr bis Herbst 1942 wurden die in den ehemaligen Zarenschlössern noch vorhandenen Kunstgegenstände nach Pskow abtransportiert. Auch die wertvollen Ikonen von Nowgorod kamen nach Pskow und wurden teilweise in einer Ausstellung gezeigt. Für kurze Zeit arbeitete der Arbeitsstab von Solms-Laubach fast wie in Friedenszeiten: Ein Fotograf fotografierte die gesammelten Objekte, Körte und Ponomarjow inventarisierten die Ikonen, manche Ikonen wurden sogar restauriert.
Wozu das? Es scheint keinen eindeutigen Plan gegeben zu haben. Die Kunsthistoriker taten eine Zeitlang das, was sie gelernt hatten und liebten. Manchen, wie Körte, zog es als überzeugte Nationalsozialisten schnell zurück an die Front, andere wie Solms-Laubach hatten keine Ambitionen zu kämpfen. Es existierte die vage Idee, nach dem gewonnenen Krieg ein neues Heeresmuseum in der Feste Lötzen in Ostpreußen einzurichten. Dort sollten die erbeuteten Kunstschätze gezeigt werden.
Im Sommer 1943 begannen bei der Heeresgruppe Nord die Vorbereitungen zum Rückzug. Das bedeutete den Abtransport aller Güter aus dem Kampfgebiet. Selbst die Zivilisten wollte man als Arbeitskräfte dem Feind nicht überlassen und versuchte, sie nach Westen zu deportieren.
Solms-Laubach ließ die in Pskow gesammelten Kulturgüter zunächst nach Riga abtransportieren. Dort übergab er einen großen Teil einem anderen Kunstkommando, dem „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“, der die Sammlung nach Colmberg in Bayern auslagerte. Dort fand die amerikanische Besatzungsmacht später die russischen Objekte und restituierte sie zwischen 1947 und 1949 in die Sowjetunion.
Die wertvollsten Stücke behielt Solms-Laubach jedoch für die Wehrmacht. 1944 organisierte er nochmals zwei Ausstellungen, eine in Riga, eine in Breslau. Anschließend brachte er die Sammlung in Ostpreußen zusammen und schickte sie Richtung Westen.
Es ist zu vermuten, dass sie bis nach Mühlberg an der Elbe gelangte und dort von der Roten Armee gefunden wurde. Manche Objekte sind heute wieder in den Museen, aus denen sie stammen, andere – wie das eingangs beschriebene Frauenporträt – bleiben bis heute verschwunden.
Der staatlich organisierte Kulturgut-
raub durch die Deutschen ist nur eine Erklärung für die immensen russischen Verluste. Darüber hinaus wurden Kunstgegenstände gestohlen, getauscht, gingen verloren oder wurden zerstört, Porzellan zerbrach im Gebrauch oder beim Transport, Möbel dienten als Feuerholz, Ikonen als Souvenirs. Immerhin liegt darin auch der Funke Hoffnung, dass sich manches noch finden lässt. Rückgaben an russische Museen durch Privatpersonen in den vergangenen Jahrzehnten bestätigen dies.
Auch 75 Jahre nach Kriegsende verspüren viele Deutsche das Bedürfnis, doch noch etwas gutzumachen.
Corinna Kuhr-Korolev
ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung.