„Der Druck auf die Deutschen war vor allem in den Trump-Jahren enorm“
Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, über Angela Merkels Anteil an Nord Stream 2 und die Lage der deutschen Wirtschaft in Russland
Angesichts der gegenseitigen politischen Entfremdung zwischen Deutschland und Russland stellen die wirtschaftlichen Beziehungen eine der wenigen aktiven Brücken dar. Was hilft den Unternehmen, in der gegenwärtigen schwierigen Lage optimistisch zu bleiben?
Natürlich werden große, strategische Projekte von der Politik beeinflusst. Sie werden in Mitleidenschaft gezogen. Vor allem gilt dies für Projekte, die in die Zukunft gerichtet sind. Aber ich glaube, dass sich die Wirtschaft dadurch auszeichnet, dass sie nicht immer nur die Risiken im Blick hat und versucht, nicht darüber nachzudenken, was alles nicht funktionieren könnte, sondern darüber, wie man etwas zum Funktionieren bringen kann.
In unserer Situation geht es manchmal darum, an das Unmögliche zu glauben. Im Deutschen spricht das Wort Unternehmer, wie im Russischen auch, für sich selbst. Er unternimmt etwas, er tut etwas, er ist immer aktiv, er sucht nach Möglichkeiten und Lösungen. Trotz aller politischen Probleme haben wir in Russland einen hervorragenden Dialog mit allen Ministern, mit den stellvertretenden Premierministern, mit der Regierung. Wir können uns bei dringenden Problemen immer an sie wenden.
Apropos Rahmenbedingungen: Wie fühlt sich die deutsche Wirtschaft derzeit auf dem russischen Markt? Wie günstig ist das Geschäftsklima in Russland gegenwärtig?
Natürlich sind Sanktionen sehr unangenehm und haben eine negative Wirkung. Aber wenn man sich die einzelnen Sektoren ansieht, in denen Sanktionen gelten, dann sieht man, dass es sich immer noch um ein sehr kleines Segment unserer Beziehungen handelt. Und außerdem hat der Markt in allen Ländern unter der Pandemie gelitten. Im Vergleich zu anderen Ländern war der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Russland jedoch relativ gering. Das deutsche Geschäft ist dort also nicht so stark betroffen. In diesem Jahr erleben wir einen sehr guten und starken Aufschwung, der bereits im Jahr 2020 begonnen hat.
Nach der Einführung der Sanktionen haben einige deutsche Unternehmen begonnen, den russischen Markt zu verlassen. Was genau waren die Gründe, die sie dazu veranlasst haben?
Wichtig ist, dass es sich nicht um eine Massenabwanderung deutscher Unternehmen handelt. Ihre Gesamtzahl in Russland ist allerdings tatsächlich zurückgegangen. Nach unseren Einschätzungen waren es vor allem einige sehr kleine, reine Handelsunternehmen. Mir ist kein mehr oder weniger großes Unternehmen bekannt, das den russischen Markt verlassen hätte. Im Gegenteil, ich würde sogar sagen, dass sich für die deutsche Wirtschaft neue Chancen eröffnet haben. Ein Thema wie die digitale Industrie 4.0 ist sehr interessant. Und auch in der Landwirtschaft entwickelt sich das Geschäft gut.
Brüssel verhängte Sanktionen gegen Russland, um dessen politisches Verhalten zu ändern. Moskau reagierte mit Gegenmaßnahmen und stellte die Weichen auf Importsubstitution. Seit der Verhängung der Sanktionen sind sieben Jahre vergangen, und sie werden automatisch alle sechs Monate verlängert. In der Zwischenzeit haben die europäischen, aber auch die russischen Unternehmen enorme Verluste erlitten. Erkennen die EU und insbesondere Deutschland die Wirkungslosigkeit von Sanktionen als Druckmittel gegenüber Moskau?
Unsere grundsätzliche Haltung in dieser Frage ist, dass wir allen Arten von Wirtschaftssanktionen sehr kritisch gegenüberstehen. Gleichzeitig sind wir Realisten und verstehen, dass es wahrscheinlich Situationen gibt, in denen ein solches Instrument notwendig ist. Und das ist das Vorrecht der Politik. Es gibt jedoch zwei Bedingungen, die für die Einführung solcher restriktiven Maßnahmen unbedingt erforderlich sind. Erstens müssen die Sanktionen aufgrund ganz bestimmter Anschuldigungen oder konkreter Gründe verhängt werden. Sie können nicht einfach sagen: „Ihr Verhalten gefällt uns nicht und wir werden Sanktionen gegen Sie verhängen.“ Zweitens sollte es klare Kriterien dafür geben, wie man aus den Sanktionen wieder herauskommt. Beispielsweise, die Sanktionen werden aufgehoben, wenn ein ganz bestimmtes Ergebnis vorliegt. Im Falle Russlands würde ich sagen, dass diese beiden Kriterien im Allgemeinen erfüllt sind. Die Sanktionen wurden wegen des Krieges in der Ost-Ukraine und der Annexion der Krim verhängt. Eine andere Sache ist, inwieweit Sanktionen das Verhalten wirklich ändern können und inwieweit Russland hier wirklich allein für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen verantwortlich ist. Es handelt sich um eine sehr komplizierte und komplexe außenpolitische Frage. Unserer Meinung nach sollte man nicht warten, bis eine der Seiten alle Anforderungen erfüllt, sondern die Sanktionen sollten schrittweise aufgehoben werden, wenn gewisse Fortschritte zu verzeichnen sind.
Die jährlichen Umfragen zum Geschäftsklima in Russland, die der Ost-Ausschuss zusammen mit der deutsch-russischen Außenhandelskammer unter deutschen Unternehmen durchführt, zeigen, dass die meisten von ihnen die Aufhebung der antirussischen Sanktionen befürworten. Wird dieser Standpunkt auch der deutschen Führung zur Kenntnis gebracht? Wie reagiert man dort?
Natürlich, nirgendwo auf der Welt gibt es Unternehmen, die Sanktionen mögen. Wenn es dein Geschäft beeinträchtigt, bist du naturgemäß dagegen. Doch als Unternehmerverband müssen wir sowohl die Interessen der Unternehmen als auch die Kontakte zur Politik pflegen und die politische Logik verstehen. Deshalb müssen wir immer einen Interessenausgleich zwischen den außenpolitischen Notwendigkeiten und den Interessen der Unternehmen schaffen. Natürlich ist die Wirtschaft die Grundlage, aber wir können nicht sagen, dass die Politik nicht auch eigene, sozusagen autonome Interessen hat. Das Beispiel Nord Stream 2 zeigt, dass Deutschland viel politisches Kapital eingesetzt und dieses Projekt trotz aller Hindernisse sowohl in der Europäischen Union als auch insbesondere in Amerika verteidigt hat. Das zeigt, wie sehr die deutsche Politik an konstruktiven Beziehungen zu Russland interessiert ist.
Sie haben Nord Stream 2 erwähnt. Glauben Sie, dass die mit der amerikanischen Regierung erzielte Einigung eher ein Verdienst der deutschen Politik oder der Wirtschaft ist?
Nun, in der Tat ist es ein Verdienst der deutschen Politiker, insbesondere von Angela Merkel, die große Widerstandsfähigkeit bewiesen haben. Ich möchte erwähnen, dass man in der russischen Presse mitunter lesen kann, Deutschland folge blindlings der Politik Washingtons und erhalte irgendwelche Anweisungen aus Washington, die es unverzüglich befolge. Aber an diesem Beispiel können wir deutlich sehen, dass dies keineswegs der Fall ist. Der Druck auf die Deutschen war vor allem in den Trump-Jahren enorm, er hält immer noch an. Doch trotz des Drucks, der enormen Hindernisse und des Gegenwinds innerhalb der EU hat die Bundesregierung ihre Position beibehalten und es geschafft, dieses Projekt zu verteidigen. Die Unternehmen und wir als Wirtschaftsverbände haben uns natürlich ebenfalls sehr aktiv dafür eingesetzt. Und es gibt einen dritten Faktor, der uns geholfen hat – die objektive Rechtmäßigkeit. Jeder, der unvoreingenommen an dieses Projekt herangeht, versteht, dass es dazu beiträgt, die Spannungen in unseren Beziehungen abzubauen. Das Argument der Pipeline-Gegner, dass es sich um eine Zunahme der Abhängigkeit von Russland handele, gefällt mir ganz und gar nicht. Im Gegenteil, hier besteht eine gegenseitige Abhängigkeit, die uns hilft, unsere politische Zusammenarbeit zu stärken.
Die Fragen stellte die Korrespondentin des *Petersburger Dialogs* Femida Selimowa.