Montag, 30. Dezember, 2024

AfD: Ist Deutschland auf dem Weg in die Vergangenheit?

Von Peter Koepf

Im pittoresken Städtchen Görlitz, ganz im Osten Deutschlands an der Grenze zu Polen gelegen, drehte Hollywood Filme mit Jackie Chan und Arnold Schwarzenegger („In 80 Tagen um die Welt”), Kate Winslet und David Kross („The Reader“) sowie Tilda Swinton und Bill Murray („The Grand Budapest Hotel”). Hinter den schönen Fassaden aber verstecken sich eine schwache Wirtschaft und viele alte und unzufriedene Menschen, denen der Glaube an die Zukunft fehlt. Weil viele Bewohner von „Görliwood“ die EU und das politische Establishment in der Bundeshauptstadt ablehnen, haben bei den Landtagswahlen am 1. September mehr als ein Drittel von ihnen ihre Stimme der sehr rechtslastigen AfD gegeben.

Knapp eine Million Menschen haben bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg für die Partei votiert, die sich für eine Alternative für Deutschland hält, gut ein Viertel der Stimmberechtigten. Bei den Wahlen am 27. Oktober in Thüringen darf die AfD mit einem ähnlichen Ergebnis rechnen. Stärker dürfte dort nur die Partei Die Linke abschneiden.

Das heißt: Jeder vierte Wähler folgt im Osten Politikern, Männern wie Frauen, die durch rechtsextreme, antisemitische, rassistische oder andere menschenverachtende Parolen aufgefallen sind. Ist Deutschland auf dem Weg in die Vergangenheit?

Kurz gesagt: Nein. Im bevölkerungsreicheren Westen reüssiert die AfD deutlich weniger, und in den AfD-affinen Ländern in Ostdeutschland haben rund drei Viertel der Wähler andere Parteien gewählt. Die AfD ist weder in Sachsen noch in Brandenburg stärkste Kraft, und niemand will mit ihr koalieren.

Dabei hatte die AfD gehofft – ja damit gerechnet – die Nummer 1 zu werden und damit den Sturz von Angela Merkel einzuleiten. „Vollende die Wende“ hatte die Partei plakatiert. Die friedliche Revolution von 1989 sei nicht erfolgreich gewesen, die derzeitigen Verhältnisse ähnelten denen zu DDR-Zeiten, so ihre Behauptung. Dagegen erhob sich lautstarker Protest.

Nach diesen Landtagswahlen ist das Schlimmste (vorerst) abgewendet. Brandenburg erhält wieder einen SPD-Ministerpräsidenten, Sachsen einen von der CDU. Und in Berlin bleibt Merkel Kanzlerin, bis zum Ende ihrer Amtszeit – und eventuell, entgegen ihrer Ankündigung, darüber hinaus. Vielleicht braucht die CDU sie ja noch – mangels charismatischer Alternative.

Aber was ist dran am Vorwurf vieler Ostdeutscher, die Wende sei nicht abgeschlossen? Und wieso glauben so viele von ihnen, benachteiligt zu sein, zu kurz gekommen zu sein, wie Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden?

Die New York Times sprach von einer „fortbestehenden Ungleichheit zwischen Ost und West drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer. Die Washington Post schrieb, der Osten „leidet noch immer unter höherer Arbeitslosigkeit und geringeren Löhnen und Renten als im Westen“.

Die Wahrheit ist:

Die Arbeitslosenquote in Sachsen liegt bei durchschnittlich 5,7 Prozent, in Brandenburg bei 5,6 Prozent (Bund insgesamt: 5,1 Prozent), in Nordrhein-Westfalen im Westen liegt sie bei durchschnittlich 6,7 Prozent, mit Spitzen von 13,4 Prozent in Gelsenkirchen und 10,4 in Dortmund.

Der Durchschnittslohn im Osten lag und liegt tatsächlich unter dem im Westen. Die Sachsen und Brandenburger verdienten im vergangenen Jahr rund 20 Prozent weniger als der deutsche Durchschnitt. Das hat viele Gründe: Ein Drittel der Vollzeitbeschäftigten in Ostdeutschland arbeiten für Niedriglohn, in Westdeutschland nur halb so viele. Im Osten arbeiten mehr Frauen als im Westen, die aus vielerlei Gründen generell rund 20 Prozent weniger verdienen als Männer. Im Osten gibt es noch immer nur wenige Großunternehmen, aber viele strukturschwache, ländliche Regionen. Und noch immer liegt die Wirtschaftskraft nur bei 75 Prozent im Vergleich zu der des Westens.

Allerdings: Wo die Großunternehmen sind, erhöhen sich nicht nur die Gehälter, sondern auch die Mieten und die sonstigen Lebenshaltungskosten.

Die Rente wiederum orientiert sich an den Löhnen – noch immer auch an denen in der früheren DDR. Eine komplizierte Ausgleichsregelung soll das Rentenniveau bis 2024 vollends angleichen.

Geringe Einkünfte führen nicht automatisch zur AfD. Das belegt die Tatsache, dass die meisten Hartz-IV-Empfänger in Sachsen in Leipzig leben, wo die Partei recht unterdurchschnittlich abschnitt.

Es gibt bedeutendere Ursachen für die Ablehnung des „Systems“ und des „Establishments“ als schmale Geldbörsen. Eine liegt in der Vergangenheit, eine in der Gegenwart: Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall und dem darauffolgenden „Anschluss“ fühlen sich viele Ostdeutsche verraten und verkauft. Ihre Industrie – verscherbelt von der sogenannten Treuhand an Westkonzerne; sie selbst ausgesetzt einem kaum regulierten kapitalistischen System, in dem sich unter der Ideologie des Wirtschaftsliberalismus die Besitzenden bereichern und die Habenichtse mehr und mehr verarmen. Und sie selbst, die in der DDR einen Arbeitsplatz hatten, fanden sich nun in den Schlangen vor den Arbeitsämtern wieder.

Bis heute fühlen sich viele Ostdeutsche außerdem nicht genügend gewürdigt für die historische Leistung, einen Systemwechsel ohne einen Schuss und ohne Blutvergießen herbeigeführt zu haben. Stattdessen scheinen die Wessis bis heute die Aufnahme der Ossis als einen Akt der Güte und Milde zu betrachten. Und zu schlechter Letzt zogen westdeutsche Glücksritter die unerfahrenen Brüder und Schwestern im Osten über den Tisch, was sie, als sie ihre Fehler bemerkten, zutiefst beschämte.

Aus der Demütigung ist eine anhaltende Verletzung entstanden. Und jene, die jung genug waren, ihr Leben komplett auf den Kopf zu stellen und sich etwas Neues aufzubauen, haben nun Angst vor dem neuerlichen Verlust – manchmal ohne Grund. Das brandenburgische Dorf Hirschfeld, an der Grenze zu Polen gelegen, erlangte Berühmtheit, weil mehr als die Hälfte der Wähler, 307, der AfD ihre Stimme gaben. Journalisten beschreiben es als ansehnliches Dorf mit ordentlicher Infrastruktur – und ganz ohne Flüchtling.

Die AfD sammelt mit einem lauten, schrillen, xenophoben Populismus die Wendetraumatisierten und Zukunftsängstlichen. Ihre Wähler sind mehrheitlich männlich, Arbeiter, zwischen 30 und 60 Jahre alt, sie haben kein Abitur oder gar einen Hochschulabschluss und fürchten um ihren Job und ihr bisheriges Leben.

Dass die AfD insgesamt weit rechts steht, stört sie nicht. Skandale, Unterstützung für rechtsextreme Gruppen, Teilnahme an Demonstrationen von Rechtsextremen, Unterschlagungen, Spendenaffären, öffentlicher Zank und Zerwürfnisse sowie Spaltung von Landesverbänden – für die Wütenden kein Problem.

Parteichef Alexander Gauland, bis 2013 Mitglied der bürgerlich-konservativen CDU mit respektabler Karriere in Politik und Publizistik, nennt seine neue Heimat „bürgerliche Volkspartei“. Dabei fallen Führungskräfte nicht nur durch rechtsextreme Äußerungen und ungehobelte Rhetorik auf, sondern lassen häufig bürgerliche Umgangsformen und Manieren vermissen.

Es wäre ein Fehler, nicht zu erkennen, dass die Basis es ist, welche die Parteiführung vor sich hertreibt. Die Funktionäre erfüllen, was Mitglieder und Anhänger von ihnen erwarten. Kompromisse mit den etablierten Parteien anzustreben, gilt an der Basis als Verrat. Wer die Trotzigen, die Wütenden zu Mäßigung aufruft, gilt ebenfalls als Verräter am freien Wort, wie sie es verstehen.

Viele der wirtschaftsliberalen und nationalen Gründer der Partei sind deshalb ausgetreten, Rechtsextreme rücken nach. Der völkische Flügel wächst, die Partei verschiebt sich in die nämliche Richtung. Unzählige Rechtsaußen haben in der Partei reüssiert, sitzen in den Parlamenten von Bund und Ländern. In den Kommunen ebenfalls, wo über die Mittel für Vereine und kulturelle Einrichtungen entschieden wird. Der eigentlich kultivierte Gauland wehrt sich weder gegen diese Rechtsdrift noch gegen die Radikalrhetorik, er hat sich angepasst.

Nach dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke im Juni griff der Berliner Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, Marc Felix Serrao, ein Wort des Präsidenten des Deutschen Bundestags, Wolfgang Schäuble, auf, wonach Sprache schon früher der „Nährboden für Gewalt bis hin zum Mord“ gewesen sei. Die „enthemmte Sprache“ der AfD erinnere an eine „vollgeschmierte Klowand. Nichts daran ist bürgerlich.“ Die Sprache der AfD könne „Mörder machen“.

Nachdem ein offenbar rechtsradikaler Antisemit am Versöhnungsfest Jom Kippur am 9. Oktober die Synagoge in Halle angegriffen hatte, stimmten dem zahlreiche Kommentatoren erneut zu. AfD-Sprecher wiesen den Zusammenhang zurück.

Um es noch einmal klar zu sagen: Die AfD ist eine kleine Minderheit. Bei den EU-Wahlen im Frühjahr erzielte die Partei elf Prozent. Anders als die Partei von Marine Le Pen in Frankreich ist die AfD weit entfernt von der Macht. Obwohl den traditionellen Parteien ein steifer Wind um die Ohren bläst, sind sie noch immer die Säulen der deutschen Demokratie.

Peter Koepf
ist Chefredakteur dieser Zeitung.

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