Mehr Licht
Die Romantik findet man nicht in der deutschen Seele, sondern im Austausch der europäischen Literatur. Mit Goethe lässt sich das besser verstehen. Zur Eröffnung des Deutschen Romantik-Museums in Frankfurt am Main
In diesem September öffnete in Frankfurt am Main das erste *Deutsche Romantik-Museum*. Warum in Frankfurt und nicht in den historischen Romantiker-Städten Jena oder Heidelberg? Der Grund dafür hat einen Namen, einen berühmten: Johann Wolfgang von Goethe. Das *Romantik-Museum* gehört zum *Freien Deutschen Hochstift*, dem 1859 in Frankfurt zur Betreuung von Goethes Geburtshaus gegründeten Verein. Großer Hirschgraben lautet Goethes bekannte Frankfurter Adresse. Es ist auch die des *Romantik-Museums*, das unmittelbar an das Goethe-Haus angrenzt. Zuvor residierte dort der Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Als er auszog, ergriff das Hochstift die Gelegenheit, um den schon älteren, ursprünglich von dem Goethe-Forscher und langjährigen Hochstift-Präsidenten Ernst Beutler (1885-1960) gefassten Museumsplan zu verwirklichen. Da sich das Hochstift nicht nur um die Erinnerung an den einen, berühmtesten Sohn der Stadt kümmert, sondern auf Beutlers Initiative hin bis heute Dichter-Nachlässe und Gemälde der Romantik sammelt (unter anderem von Eichendorff, Günderode, Körner; Gemälde von C. D. Friedrich, Füssli), lag dieser Plan nahe. Die Neueröffnung eines Romantik-Museums am Großen Hirschgaben ist also nur die Konsequenz aus einer schon längeren Sammlungsgeschichte. Das Epochenwort ist der passendste Titel, unter dem das Hochstift zeigen kann, was es hat.
Doch steckt in dieser Neueröffnung mehr. Sie hat die Chance, das Romantik-Bild in Deutschland neu zu erhellen. Das kann gerade dadurch gelingen, dass man es von Goethe aus betrachtet und ihn selbst mit ins Bild nimmt. Beides ist wichtig. In seinem umfänglichen Alterswerk, der Zeitschrift *Über Kunst und Altertum*, berichtet Goethe mit Interesse, Sympathie und Solidarität von den zeitgenössischen romantischen Dichtern der Nachbarländer: von Lord Byron und Walter Scott, Alessandro Manzoni, der französischen romantischen Literaturzeitschrift *Le Globe*. Immer wieder erwähnt er dabei auch mit hörbarer Zufriedenheit die dortigen Übersetzungen und Diskussionen seiner eigenen Werke, insbesondere des Faust.
Außerhalb Deutschlands besteht kein Zweifel, dass Goethe selbst Romantiker ist. Denn er hat ja wie kein Zweiter in Deutschland – und als einziger Deutscher mit so großer internationaler Resonanz – zur Erneuerung der Literatur durch volkstümliche Stoffe (*Faust*, *Götz von Berlichingen*) und Formen (Volksliedhaftes, Balladen, Prosaroman) beigetragen. Das und noch manches mehr (die Individualisierung und Ästhetisierung der Religion, die Entwicklung des fantastischen Erzählens zum psychologischen Erkundungsmittel) sind die Kennzeichen der europäischen Romantik. Mit ihr entsteht die moderne Situation der Literatur: Der Prosaroman wird zur Leitgattung, vielfältig individualisierte Schriftstellerei macht die private Lektüre zur Massenunterhaltung, aber auch zum weltanschaulichen Kompass in einer sich zunehmend individualisierenden, entwicklungsoffenen Welt. Auch die antifundamentalistische Verbindung von ewigen Wahrheiten und Ironie ist ein Erzeugnis der Romantik; Goethe ist darin ein Meister. Der christlich-metaphysische Rahmen um sein Faust-Drama ist so sehr von Selbstparodie durchdrungen, dass man beim besten Willen nicht entscheiden kann, wie ernst man ihn nehmen soll. Goethe erweist sich als der virtuoseste romantische Ironiker.
Wenn man *Über Kunst und Altertum* liest (der Titel täuscht, es geht in erheblichem Maße um zeitgenössische, romantische Literatur) und wenn man sich dadurch zum grenzüberschreitenden Blick ermuntern lässt, zeigt sich ein Zusammenhang der europäischen Romantik als zweiter Impuls der Moderne. Der erste war die Aufklärung. Der zweite, die Romantik, schafft einen neuen Stil, mit den Fragen umzugehen, die spekulativ über die Rationalität der arbeitsteiligen Wissenschaften hinausgehen: Fragen nach einem möglichen Sinn des Ganzen, nach dem Zusammenhang des Einzelnen mit diesem Ganzen, insgesamt nach Perspektiven jenseits von Erfahrung und Überprüfbarkeit. Wer an den konfessionellen religiösen Antworten darauf zweifelt, den treiben diese Fragen, so sagt es die gängige Metapher, in die „metaphysische Obdachlosigkeit“.
Romantik ist die Kunst, diesen Mangel durch imaginäre Bautätigkeit zu beheben. Sie schafft metaphysische Luftschlösser, von denen man weiß, dass es nur Luftschlösser, also Einbildungen sind. Anders gesagt: Die Romantik kultiviert die Imagination als eine selbstbewusste Orientierungshilfe in all dem, was über die Verhältnisse unserer Vernunft geht. Gut, wenn man dabei Imagination nicht mit Wissen verwechselt. Die romantische Literatur entwickelt originelle Verfahren, dies zu verhindern. Damit schafft sie ein aufgeklärtes Verhältnis zur Lebenswirksamkeit der Imagination. Das ist kein generelles Merkmal der Romantik, doch eines, das man nur zu seinem eigenen Nachteil verliert.
Indem er die Nachbarliteraturen sowie die dortigen Übersetzungen und Diskussionen seiner eigenen Werke verfolgt, prägt Goethe den Begriff „Weltliteratur“. Er setzt ihn programmatisch gegen den Begriff „Nationalliteratur“, der das 19. Jahrhundert kulturpolitisch dominieren wird. Goethe ist radikal unzeitgemäß, indem er sich der seit den Befreiungskriegen in Deutschland aufblühenden nationalen Begeisterung entzieht. Anstatt wie die überwältigende Mehrheit seiner Zeitgenossen die Literatur zur nationalen Sache zu erklären und ihr eine nationalkulturell identitätsstiftende Mission zuzuweisen, betont er ihre Internationalität, die er mit dem grenzüberschreitenden Handel vergleicht. Zum Zeitgeist liegt Goethe damit quer. In der Sache liegt er indes richtig. Denn die Literatur ist in ihren Formen, Gattungen, Motiven, Stoffen, Themen sowie in ihrer Verbreitung, Resonanz und Wirkung genauso international wie die bildende Kunst oder die Musik. Literatur als eine spezifisch nationalsprachliche Größe zu verstehen, ist so abwegig wie das Studium oder die Theorie nur der deutschen Malerei oder nur der deutschen Musik.
Genau darin kann das Erhellende liegen, wenn man ein deutsches Romantikmuseum neben das Goethehaus setzt. Man muss dazu das Nachbarliche programmatisch nehmen und ganz im Sinne von Goethes Weltliteratur-Konzept die deutsche als einen Teil der europäischen Romantik verstehen. Man erkennt dann, dass die Romantik nichts charakteristisch Deutsches ist, sondern eine komplexe, in sich widersprüchliche Vielfalt, deren Trenn- und Verbindungslinien (wie überall in der Literatur, Kunst und Musik) quer zu den Landes- und Sprachgrenzen verlaufen.
Novalis’ ästhetisierter Katholizismus („Die Christenheit oder Europa“) hat viele protestantische Zeitgenossen in Deutschland irritiert, liegt aber zeitlich und sachlich nah bei François René de Chateaubriand, der in der Poesie und allen anderen Zeugnissen der schönen Kunst und Kultur *Le génie du christianisme* sieht. Wenn die Jenaer Frühromantiker eine ‚Neue Mythologie‘ fordern, halten sie viele in Deutschland für substanzlose, überdrehte Großsprecher, doch bringen sie damit auf den Begriff, was zur selben Zeit William Blake am eigenwilligsten hervorzubringen versucht hat: eine mythische Darstellung der amerikanischen und der französischen Revolution als Freiheitsbotschaft (*America, a Prophecy*). Hölderlins Hyperion richtet wie Ugo Foscolos *Ultime lettere di Jacopo Ortis* den empfindsamen Briefroman engagiert auf die aktuelle Politik aus. Goethes Werther dient beiden als Inspiration. Unabhängig voneinander schreiben Coleridge, Leopardi und Eichendorff Gedichte, in denen traditionelle christliche Jenseitsmotive als selbstgemachte kreative Imaginationen erscheinen. Der Schauerroman entwickelt sich im Hin und Her zwischen Deutschland und England. Der herausstechende Skandalerfolg dieser Gattung, *The Monk *von Matthew Lewis, ist durch einen heute vergessenen deutschen Roman mit inspiriert („Das Petermännchen“ von C.H. Spieß) und wird seinerseits zur entscheidenden Vorlage für E.T.A. Hoffmanns „Elixiere des Teufels“, die zunächst in englischen und französischen Übersetzungen größeren Erfolg haben als in Deutschland. Die deutsche Romantik ist nichts eigenwillig Deutsches, das mit einem Volkscharakter zu tun hätte. Sie ist ein Teil der europäischen Entwicklung und des europäischen Austauschs.
Die Rede von Nationalcharakteren ist so irrational wie unverwüstlich. Witze sind ihr eigentlicher, angemessener Ort. Über Deutsche, Engländer, Franzosen oder Italiener sind sie genauso gut und genauso schlecht wie über Ostfriesen oder Blondinen. Man darf ihre Aussagen nur nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Die Romantik-Diskussion war lange Zeit mit der Spekulation auf den deutschen Nationalcharakter verknüpft. Das hat keinerlei Erkenntnis gebracht, sondern nur den Mythos von einem Schicksal, das die Deutschen von der Romantik zum Nationalsozialismus geführt hätte. Als unmittelbare Nachkriegsreaktion kann man das noch am ehesten verstehen. Das Ausmaß der Verbrechen war so ungeheuerlich, dass man nur in der dunklen Tiefe einer irrationalen Volksseele das dafür passende (Un-)Maß zu finden glaubte.
Tatsächlich sind solche völkerpsychologischen Erklärungen so irrational wie das, wovon sie handeln. Sie wirken als Verstehenssurrogate. Es gibt kein Verhängnis eines romantischen Deutschlands. Es gibt Akteure und deren Verantwortung, zum Beispiel den (so viel zu harmlos titulierten) Turnvater Jahn, dessen Buch vom „Deutschen Volksthum“ die völkische Ideologie begründete und mit dem neuen griffigen Wort („Volkstum“) in Umlauf brachte. Jahn ist ein Teil, aber nicht die Quintessenz der deutschen Romantik.
Die historische Romantik-Forschung hat dem völkerpsychologischen Verhängnis-Mythos vielfach entgegengearbeitet. Die Langlebigkeit der Mythen aber zeigt sich zuletzt darin, dass auch ein so seriöser Verlag wie Hanser und ein so kundiger Autor wie Rüdiger Safranski die Romantik als „deutsche Affäre“ ihrem Publikum interessant machten. Das platziert die Sache zwischen Romanze und Skandal, macht die Romantik-Darstellung zur Bloßstellung der deutschen Seele. Man kann sich keinen Besseren als Goethe wählen, um diesen Mythos hinter sich zu lassen und die Romantik statt in der deutschen Seele im Austausch der europäischen Literatur zu suchen und zu finden.
Stefan Matuschek
Prof. Dr. Stefan Matuschek lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit Juni 2019 ist er Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V. goethe-gesellschaft.de. In diesem Jahr erschien sein Buch „Der gedichtete Himmel: Eine Geschichte der Romantik“ bei C.H. Beck.