Gorbatschow reagierte auf den Fall der Mauer mit Erleichterung
In einem Interview mit Viktor Loschak erinnert sich der Pressesprecher des Präsidenten der UdSSR, Andrej Gratschew, an die letzten Tage von Michail Gorbatschow an der Macht, an seine Reaktion auf den Fall der Berliner Mauer und äußert seine Gedanken über die heutige Haltung zur Perestroika.
In diesem Jahr jähren sich viele wichtige Ereignisse zum 30. Mal, darunter auch der Rücktritt von Michail Gorbatschow. Wie verlief der letzte Tag von Michail Sergejewitsch im Kreml?
Michail Sergejewitsch verbrachte diesen Tag mit gemischten Gefühlen. Es war die Gelegenheit, eine Bilanz der Veränderungen und des Wandels zu ziehen, die sich in unserem Land und in der Welt in den wenigen Jahren der Perestroika vollzogen hatten. Veränderungen, auf die ihr Initiator Gorbatschow zu Recht stolz sein konnte.
In weniger als sieben Jahren wurde ein totalitäres, auf Unterdrückung basierendes Regime, das die individuellen Freiheiten erstickte und uns vom Rest der Welt isolierte, mit politischen Mitteln zerschlagen.
Auf internationaler Ebene wurden der Kalte Krieg, der zu einer weltweiten nuklearen Katastrophe zu führen drohte, das sinnlose Wettrüsten, das unsere Wirtschaft ruinierte, und das Abenteuer Afghanistankrieg beendet. Aber es gab keinen Grund zum Feiern, denn die Reformen waren nicht vollständig umgesetzt worden, die Menschen spürten die Ergebnisse der politischen „Revolution der Versprechen“ nicht in ihrem alltäglichen Leben, und der Zerfall des riesigen Vielvölkerstaates hatte begonnen.
Dazu kam, dass Gorbatschow nicht aus eigenem Antrieb zurücktrat, sondern unter dem Druck der Prozesse, die er eingeleitet hatte und die seiner Kontrolle entglitten waren. Für ihn persönlich, als Politiker, war es also kein guter Tag.
Wir wissen, dass dieser Tag im Kreml mit einem Abendessen der engsten Vertrauten Gorbatschows endete, und Sie waren dabei. Können Sie sich erinnern, worüber gesprochen wurde?
Das Abendessen spiegelte diese ganze Bandbreite an Gefühlen wider. Nachdem Gorbatschow im Fernsehen seinen Rücktritt erklärt und den „Nuklearknopf“ über Marschall Schaposchnikow an Boris Jelzin übergeben hatte (entgegen der Absprache weigerte sich Jelzin, ihn selbst beim „ehemaligen“ Präsidenten abzuholen), versammelte Gorbatschow im Walnuss-Saal neben seinem Büro den engsten Kreis seiner Gefährten. Dazu gehörten Anatoli Tschernjajew (Berater des Präsidenten der UdSSR), Alexander Nikolajewitsch und Jegor Jakowlew (A. Jakowlew – Mitglied des Präsidialrates, J. Jakowlew – Leiter des TV-Senders 1. Kanal Ostankino) und ich.
Es war verständlich, dass er an diesem Abend nicht allein sein wollte. Schließlich war keine Abschiedszeremonie für den Präsidenten geplant, und keiner der Führer der ehemaligen Sowjetrepubliken, die dank ihm Präsidenten unabhängiger Staaten geworden waren, hielt es für geboten, ihn anzurufen. Sie wussten, dass Informationen über solche Anrufe an Jelzin weitergeleitet werden würden, und zogen es vor, den neuen „Boss“ nicht zu verärgern.
Auch wir wollten ihn in diesen schweren Stunden nicht allein lassen. Das Gespräch drehte sich also hauptsächlich um das Erreichte und die Frage, ob es möglich wäre, es zu konsolidieren. Natürlich wurde darauf hingewiesen, dass vieles noch ungewiss sei, dass Jelzin unberechenbar sei und eine persönliche Abrechnung mit Gorbatschow beginnen könnte. Zugleich herrschte eine Atmosphäre des vorsichtigen Optimismus. Man wollte glauben, dass die großen Veränderungen im Land und in der Welt unumkehrbar seien und dass es kein Zurück mehr geben würde.
Nun zu dem Ihnen naheliegenden Thema der Beziehungen zwischen Gorbatschow und den Medien. Welchen Weg haben sie genommen und zu welchem Ergebnis haben sie geführt?
Auch wenn Gorbatschows Beziehungen zu den Medien je nach der politischen Atmosphäre im Land variierten, änderte sich das Wichtigste nicht – die Überzeugung, dass die Medien ein notwendiges Element der Zivilgesellschaft sind, dass sie als politisches Instrument eingesetzt werden können, aber die Politik nicht befehligen dürfen. Wir sollten nicht vergessen, wer Agitprop, Zensur und Pressegesetz abgeschafft hatte. In der ersten Phase der Perestroika war die „gesteuerte“ Glasnost fast das Hauptinstrument der politischen Reformen. Später, als die Medien mutiger wurden, aufhörten, eine dienende Rolle zu spielen, und begannen, den Pluralismus der Gesellschaft widerzuspiegeln, der Opposition eine Stimme zu geben und die Behörden zu kritisieren, konnte dies nicht ohne Auswirkungen auf Gorbatschows Reaktion bleiben. Er äußerte mitunter sogar, dass die Presse, die der Perestroika die Freiheit des Wortes verdankte, ihn „verraten“ habe. Aber Ausfälle in Trumpscher Manier hat er sich nicht erlaubt.
Zu Beginn und in den ersten Jahren der Perestroika hatten Sie als stellvertretender Leiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU eine ziemlich hohe Position inne. Wie haben Ihre Kollegen im Zentralkomitee reagiert, als Sie Mitglied des Gründungsausschusses der oppositionellen Zeitung Moskovskie Novosti wurden?
In der Internationalen Abteilung wurde es sogar in der Breschnew-Ära als akzeptabel angesehen, dass sich Mitarbeiter in der Presse zu Wort meldeten, insbesondere in den auf das Ausland gerichteten Medien – *Nowoe Wremja* oder *Moskowskie Nowosti*. Auf diese Weise konnten sie die sowjetische Parteilinie besser der ausländischen Öffentlichkeit vermitteln. In der Ära der Perestroika änderte sich natürlich alles, und Moskowskie Nowosti wurde, vor allem mit der Amtsübernahme durch Jegor Jakowlew, zu einem einflussreichen Organ der Glasnost im Lande. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich bereits im Team von Alexander Nikolajewitsch Jakowlew, und unter seinem Dach konnte ich mir gewisse Freiheiten und Abweichungen von der vom Apparat geförderten Disziplin erlauben. Und wer wollte überhaupt behaupten, dass *Moskowskie Nowosti* in jener Zeit eine oppositionelle Zeitung war? In Opposition wozu? Von wessen Blickwinkel aus? Höchstens vielleicht aus der Sicht von Ligatschow. Ich hatte Ihnen ja gesagt, wer zu den geladenen Gästen Gorbatschows beim Abschiedsessen gehörte (während der gesamten Perestroika-Zeit war Jegor Jakowlew Chefredakteur der *Moskowskie Nowosti*).
Und auch 30 Jahre später gibt es keine klare Antwort auf die Frage, ob die UdSSR ohne den Putsch überlebt hätte. Was meinen Sie?
Die Antwort auf diese Frage muss zweigeteilt werden. Ja, wie Gorbatschow selbst glaubt, wenn er in Moskau geblieben wäre und am 20. August ein neuer Unionsvertrag unterzeichnet worden wäre, dem die Präsidenten von neun Republiken, darunter auch Jelzin, damals zugestimmt hatten, hätten die Organisatoren des Putsches nicht gewagt, ihr abenteuerliches Spiel zu spielen, und die Union wäre formal gerettet worden. Aber für wie lange? Außerdem wäre es schon eine andere konföderale Union gewesen, das heißt eine Hülle des früheren, von den Bolschewiki geschaffenen, streng zentralisierten Reiches. Wie lange hätte sie einer Form ähnlich der Europäischen Union oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft bestehen können?
Vergessen wir nicht, dass bereits am Referendum vom März 1991, auf das sich die Kritiker Gorbatschows berufen, sechs der fünfzehn Republiken nicht teilgenommen haben. Und Gorbatschow hätte die Union unter keinen Umständen mit Gewalt nach dem Vorbild Stalins oder, wie es die Putschisten wollten, mit Panzern nach chinesischem Vorbild wiederherstellen wollen.
Anatoli Tschernjajew, Gorbatschows Berater für internationale Angelegenheiten, schreibt in seinen Memoiren, dass Michail Sergejewitsch kaum fünf Prozent seiner Arbeitszeit den Ländern des Warschauer Paktes widmete. Warum, glauben Sie, hat er sich so wenig mit Osteuropa befasst?
Vor der Perestroika und praktisch bis 1989 bildeten die Länder Osteuropas, die Mitglieder des Warschauer Paktes, den sowjetischen Hinterhof und wurden – von Erich Honecker in der DDR bis Todor Schiwkow in Bulgarien – von Mini-Breschnews regiert (mit Ausnahme von János Kádár und Wojciech Witold Jaruzelski). Die Lawine der samtenen Revolutionen wurde durch die Veränderungen in der UdSSR ausgelöst: den ersten freien Wahlen und vor allem der Ankündigung Gorbatschows, von der Breschnew-Doktrin abzurücken, das heißt, von einer möglichen Wiederholung sowjetischer Interventionen zur Aufrechterhaltung von Regimen wie 1968 in Prag oder 1956 in Budapest. Nachdem sie die versprochene Wahlfreiheit erhalten hatten, nutzten sie diese und zeigten, was die Einheit des sozialistischen Lagers wirklich wert war. Und sich um sie zu kümmern, hätte wie zu Sowjetzeiten bedeutet, sie entweder weiter zu versorgen oder vor der eigenen Bevölkerung zu retten.
Wie reagierte Gorbatschow auf die Nachricht vom Fall der Berliner Mauer?
Ich glaube, Gorbatschow hat den Fall der Mauer mit Erleichterung aufgenommen. Denn in der neuen globalen Landschaft nach dem Kalten Krieg und mit der Hoffnung auf ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem anstelle von Militärblöcken wirkte die Mauer wie ein fauler Zahn, der aus der vergangenen Ära übriggeblieben war. Sie selbst niederzureißen, wie Ronald Reagan von Gorbatschow forderte, wäre höchst unpassend gewesen. Es war besser, dies den Deutschen selbst zu überlassen und sie vor allem nicht mit unseren Panzern zu verteidigen.
War für Gorbatschow Moral in der Politik wichtig?
Auf jeden Fall. Auch hierin unterschied er sich von seinen Vorgängern. Aber wir wollen nicht übertreiben. Er war Politiker, kein Prediger oder Moralist, und daher vor allem auf Ergebnisse bedacht. Er glaubte einfach, vielleicht naiverweise, dass eine moralische Politik letztlich effektiver sei. Und er hat keine Ergebnisse erzielt, indem er predigte, sondern indem er taktierte, Kompromisse einging, wenn es nötig war, und seine Spuren verwischte. Aber ohne die Hauptrichtung aus den Augen zu verlieren und unter Vermeidung von zivilen Konflikten und Gewaltanwendung.
In Russland sind viele der Meinung, dass das Land unter Gorbatschow einen falschen Weg eingeschlagen und seine frühere Macht und Dominanz verloren habe.
Was meinen Sie mit „in Russland“? Wenn es sich um Umfragen handelt, spiegeln sie die Meinung derjenigen wider, die vergessen haben, wie sie in der Sowjetunion gelebt haben, oder die später geboren wurden und überhaupt nicht in der Sowjetunion gelebt haben, geschweige denn in China oder Nordkorea. Und wohin genau sollte eine andere Politik führen, um die sowjetische Macht und Dominanz zu erhalten? In Afghanistan zu bleiben, um von dort zu fliehen, wie es die Amerikaner jetzt getan haben, nachdem wir noch ein paar Tausend unserer Soldaten dort verloren haben? Oder um wieder mit Gewalt Sunniten und Schiiten in Syrien und im Irak auseinanderzuhalten, oder Armenien und Aserbaidschan in der Karabach-Frage? Oder sollten wir vielleicht weiterhin unsere „Freunde“ auf der ganzen Welt und unseren eigenen militärisch-industriellen Komplex durchfüttern und mit Amerika und China gleichzeitig konkurrieren, auf Kosten des Lebensstandards unserer eigenen Bevölkerung?
Verschiedentlich hat Gorbatschow die Staatsmacht mit seinen Äußerungen verärgert. Sollte er nicht enger mit der derzeitigen Regierung sein, um dem Land und den Reformen besser zu helfen?
Ehrlich gesagt würde ich es vorziehen, wenn die derzeitige russische Regierung mehr darüber nachdenken würde, ob sie das Land nicht zu weit von den Zielen der Perestroika und dem Grad der Freiheit, auf den Russland zum ersten Mal in seiner Geschichte Anspruch erheben konnte, wegführt und vor allem, wohin sie es führen will. Und welche Reformen meinen Sie, vielleicht die Verfassungsreform?
Sie sind Autor mehrerer Bücher über Gorbatschow und die Perestroika, und Sie arbeiten an einem neuen Buch – worum wird es gehen?
Ich bin gerade dabei, ein Buch für den Eksmo-Verlag zum Abschluss zu bringen, in dem ich meine Erinnerungen an die Geschehnisse im Kreml und außerhalb seiner Mauern vor 30 Jahren darlege und vor allem versuche, die Frage zu beantworten, warum alles so endete „wie immer“, nämlich schlecht. Oder ist es doch noch nicht vorbei?
Ich würde sagen, dass dies nicht der Fall ist.