Samstag, 21. Dezember, 2024

Wer befreite Auschwitz wirklich?

Von Félix Krawatzek

Eine deutsch-russische Studie offenbart ein unterschiedliches Geschichtsbewusstsein in Russland und Deutschland

Teil der gegenwärtigen politischen Entfremdung zwischen Deutschland und Russland ist auch, dass sich der jeweilige Blick auf die Bruchstellen der konflikthaften Geschichte des 20. Jahrhunderts grundlegend unterscheidet. Wie ein Land auf seine eigene Geschichte blickt, ist wichtig, um sein Selbstverständnis zu verstehen – wie es sich zu der Geschichte anderer Länder verhält, verrät einiges über die Beziehungen zwischen ebendiesen Ländern.

Mit Blick auf die deutsche Debatte ist festzustellen, dass der gesellschaftliche Grundkonsens über den selbstkritischen Blick auf die Geschichte zu schwinden scheint. Geschichtspolitische Aussagen der rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland (AfD), welche die NS-Verbrechen relativieren, scheinen lediglich die Spitze des Eisbergs der Tabubrüche darzustellen. Darüber hinaus ist insbesondere in den vergangenen zwei Jahren eine gesteigerte Anzahl an antisemitischen und teilweise antizionistischen Übergriffen zu beklagen, vom Anschlag auf eine Synagoge in Halle im Oktober 2019 hin zur Verbrennung israelischer Flaggen im Mai 2021.

In der russischen Debatte fällt auf, wie sehr Geschichte innen- und außenpolitisch instrumentalisiert wird. So versuchen staatliche Bildungsprogramme, die politische Loyalität der jungen Generation durch geschichtliche Appelle zu gewinnen, und internationale Initiativen wie die Stiftung „Russkij Mir“ oder die weltweiten Märsche des „Unsterblichen Regiments“ suchen die Unterstützung der russischsprachigen Bevölkerung jenseits der Landesgrenzen. Gegenstimmen zu den offiziellen Geschichtsinterpretationen, in Bezug auf die Sowjetunion und den Zweiten Weltkrieg im Besonderen, finden nur noch schwer Gehör. In der erneuerten Verfassung ist der offizielle Geschichtsblick festgeschrieben. Artikel 67 besagt, dass der Staat die „historische Wahrheit“ schützen soll und die „Verteidiger des Vaterlandes“ ehrt. Kritik an der heldenhaften Verteidigung des Vaterlandes ist nicht zugelassen.

Gefördert durch die Daimler und Benz Stiftung hat das Berliner Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) eine Online-Umfrage zum Geschichtsbewusstsein unter jeweils 2000 in Deutschland und Russland lebenden Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren durchgeführt. Diese Studie erlaubt Rückschlüsse auf die Bewertungen von Geschichte und dadurch auch auf Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen beiden Ländern.

Am 27. Januar 1945 erreichten Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Die Befreiung des größten nationalsozialistischen Konzentrationslagers ist zentraler Bestandteil der Weltkriegserinnerung in Russland, in der die Rote Armee als maßgebliche Befreierin Europas vom Faschismus verehrt wird. Unter den russischen Befragten geben mehr als 80 Prozent an, dass es die Sowjetunion war, die das Konzentrationslager befreit hat. Der Unterschied zwischen den Generationen ist in Russland jedoch eklatant. Mehr als 90 Prozent der über 38-Jährigen kennen die korrekte Antwort, aber nur etwa 60 Prozent der Jüngeren.

In Deutschland hingegen ist nur etwa die Hälfte der Befragten in der Lage, die richtige Antwort zu geben. Knapp ein Viertel vermutet dagegen, dass US-Truppen Auschwitz befreit hätten, alle anderen sahen sich nicht in der Lage, diese Frage zu beantworten.

Hinter den Zahlen tritt eine eklatante generationelle Kluft zutage mit einer Bruchlinie bei den Mitdreißigern – 55 Prozent der über 38-Jährigen gaben die richtige Antwort, jedoch nur 36 Prozent der Jüngeren. Darüber hinaus sticht der Unterschied zwischen den Geschlechtern heraus – 20 Prozent mehr Frauen als Männer antworteten falsch. Im deutschen Ost-West-Vergleich zeigt sich, dass 64 Prozent der Menschen, die heute auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wohnen, die richtige Antwort gaben, etwa 20 Prozent mehr als in den alten Bundesländern.

 Aus russischer Sicht ist unbestreitbar, dass die Sowjetunion den größten Beitrag zum Ende des Krieges geleistet hat. Der heroische Marsch der Roten Armee nach Berlin ist der Dreh- und Angelpunkt der russischen Kriegserinnerung. Im politischen Diskurs wie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung geht sie einher mit einem hohen Bewusstsein, die Würde der mehr als 20 Millionen zivilen und militärischen Opfer zu wahren. Dieser geschichtliche Grundkonsens innerhalb der russischen Gesellschaft steht jedoch in einem grundlegenden Spannungsverhältnis zur Wahrnehmung in anderen Ländern. In Deutschland findet der Gedenktag für das Kriegsende am 8. und nicht am 9. Mai statt. Statt Helden zu feiern, erinnert er in erster Linie an die Opfer, und es ist nicht die Sowjetunion, die mit dem Ende des Krieges in Verbindung gebracht wird.

Unter den befragten Deutschen geben nur 7 Prozent an, dass die Sowjetunion den größten Beitrag zum Sieg geleistet habe. Ein knappes Drittel ist der Ansicht, dass es die Sowjetunion gemeinsam mit westlichen Alliierten gewesen sei, weitere 44 Prozent nennen ausschließlich die Westalliierten.

Auffällig sind bei dieser Frage die Erinnerungsbrüche zwischen Ost und West. Bewohner der ostdeutschen Bundesländer nennen dreimal so häufig ausschließlich die Sowjetunion. Darüber hinaus treffen diese Aussage besonders häufig Männer. Das von Russland suggerierte Bild militärischer Stärke trifft dort scheinbar auf offenere Ohren. Das russische Selbstverständnis ist hingegen ein grundlegend anderes – 70 Prozent der Befragten in Russland geben an, dass die Sowjetunion den wichtigsten Beitrag geleistet hat. Insbesondere ältere Teilnehmer der Umfrage teilen diese Sicht. Ihre Übereinstimmung mit dem dominanten sowjetzentrierten Diskurs im heutigen Russland kontrastiert mit dem Blick junger Menschen, die weitaus häufiger angeben, dass die Sowjetunion gemeinsam mit den alliierten Kräften den größten Beitrag zum Sieg geleistet habe. Der allgegenwärtige und besonders auf junge Menschen abzielende Geschichtsdiskurs hat dort anscheinend nur eine begrenzte Reichweite.

 Entschuldigungen für die Fehler der Vergangenheit können als Hebel wirken, um zwischenstaatliche Spannungen abzuschwächen. Vor diesem Hintergrund hat beispielsweise Emmanuel Macron einen offeneren Umgang mit Frankreichs Kolonialverbrechen eingeschlagen und Deutschland die Kolonialverbrechen im heutigen Namibia im Mai dieses Jahres als Völkermord anerkannt.

Als Zeichen der Zustimmung zu liberalen Werten können Worte der Entschuldigung für vergangene Verbrechen einen Beitrag leisten, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren auch Entschuldigungen ein Teil der deutschen Vergangenheitspolitik. Trotz ihrer Unzulänglichkeiten leistete sie einen Beitrag zur Reintegration des Landes in die internationale Gemeinschaft der Demokratien. Bis zum heutigen Tag sind Entschuldigungen zentral für die deutsche Erinnerungspraxis. Anlässlich des 75. Jahrestages zur Befreiung von Auschwitz hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Januar 2020 eine Gedenkrede in Yad Vashem und folgte damit ähnlichen Gesten seiner Amtsvorgänger. Auch wenn zwischen den heutigen Deutschen und dem Kriegsende mehr als 75 Jahre liegen, sind mehr als zwei Drittel der Bevölkerung der Ansicht, dass eine derartige Entschuldigung wichtig sei.

Wenn man in Russland nach der Wichtigkeit von Entschuldigungen fragt, ergibt sich ein grundsätzlich anderes Bild. Vertreter der Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts fordern regelmäßig, dass sich Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion für die generelle Einschränkung von politischen und gesellschaftlichen Freiheiten oder für spezifische Gewalthandlungen, wie beispielsweise das Massaker von Katyń, entschuldigen solle. Zum Jahrestag des Massakers 2020 erkannte Putin an, dass „für Jahrzehnte Lügen [über Katyń] erzählt wurden“, entschuldigte sich aber nicht. Ganz im Gegenteil unterstrich er, dass „das russische Volk dafür nicht beschuldigt werden kann“. Dieses Bild entspricht weitestgehend der Sichtweise in der Bevölkerung, von der 70 Prozent der Befragten angeben, dass eine Entschuldigung nicht wichtig sei.

Grundlegende Divergenzen in der historischen Wahrnehmung sind eine wichtige Begleiterscheinung der politischen Zerwürfnisse zwischen Deutschland und Russland. Der schlichte Austausch über diese zwischenstaatlichen Risse wird die heutigen politischen Spannungen nicht auflösen. Nichtsdestotrotz, respektvoller Dialog auf Augenhöhe und ein Verständnis für unterschiedliche Selbstverständlichkeiten im Blick auf das 20. Jahrhundert erscheinen wünschenswert, damit der Blick auf die Vergangenheit die Konflikte der Gegenwart nicht weiter anfeuert.

Félix Krawatzek
Dr. Félix Krawatzek ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin.

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