Russlands neuer Ministerpräsident vor einem Gang über ein Minenfeld
Seinen Namen erfuhren 86 Prozent der von Soziologen befragen Russen erst, als Michail Mischustin zweiter Mann im Staat geworden war. Inzwischen kennen sie sein schönes Lächeln und das willensstarke Gesicht eines Menschen mit Charakter. Aber in der Regierung gibt es so viele Neulinge, dass das Land noch einige Zeit zu tun hat, sich mit seiner neuen Führung bekannt zu machen.
Mischutin kehrte vor zehn Jahren in den Staatsdienst, nachdem er zwischenzeitlich Gesellschafter eines privaten Investmentunternehmens gewesen war, weshalb es seiner Familie seit langem sehr gut geht: Viel Geld, große Häuser an der berühmten Rubljowka, seine Söhne und nahen Verwandten sind wohlhabend.
Um möglichen Gerüchten über die Provenienz des Vermögens des neuen Premiers zu begegnen, gab die Geschäftsführerin der Investmentgesellschaft UFG Invest Group, Polina Gerasimenko, vor Kurzem der Nachrichtenagentur RBK ein Interview: In den zwei Jahren seiner Tätigkeit als Gesellschafter dieses Unternehmens habe Mischustin 2,5 Millionen Dollar verdient, im Verlauf von weiteren fünf Jahren hätten nahe Verwandte, die seinen Anteil an dem Trust übernahmen, noch einmal 33,5 Millionen Dollar erwirtschaftet.
Der neue Ministerpräsident schreibt Gedichte und Lieder, spielt nach Gehör Klavier, liebt Tennis und spielt mit dem Präsidenten Eishockey in der „Nacht-Hockey-Liga“. Davon abgesehen gehörte er aber nie zu Wladimir Putins engerem Umkreis und zählt auch jetzt nicht dazu. Er ist das neue Gesicht der Macht, das die Russen schon seit langem sehen wollten.
Während der Fahrt in ein in der Stadt Dubna bei Moskau gelegene Forschungszentrum erklärte mir ein guter Freund in aller Kürze, wer dieser Mischustin ist. Auf einem Feld in der Nähe der Straße stehen Hallen, in denen sich das Rechenzentrum der Steuerbehörde Russlands befindet. Mischustin ist ein Steuerrevolutionär. Mit Hilfe der Digitalisierung hat er dieses fiskalisch desolate Land im Hinblick auf Technologie und Effektivität der Erfassung und Eintreibung von Steuern fast zu einem der vorbildlichsten in der Welt gemacht. So ist gerade die Steuerverwaltung zu einem fortschrittlichen Zentrum für die Erfassung wirtschaftlicher Informationen geworden, wodurch es nun möglich wird, mit Hilfe umfangreicher Daten sozioökonomische Prozesse in ganz Russland besser zu verstehen.
Vierundfünfzig Jahre ist ein gutes Alter, um Ministerpräsident zu werden. In diesem Alter ist eine solche Herausforderung interessant, und man ist weise genug, sie richtig anzunehmen. Wozu Putin, der im Grunde selbst das gesamte russische politische System verkörpert, Mischustin braucht, ist offensichtlich: Nach dem gerade stattfindenden Umbau der Verfassung zu urteilen, hat der Präsident die Absicht, „zu gehen, um zu bleiben“. Dafür braucht er nicht nur eine neue Verfassung, sondern auch eine funktionierende Wirtschaft und ein zufriedenes Land.
Die Qualität der Verwaltung in Russland war jedoch bis zum Beginn des Jahres 2020 so niedrig, dass die Regierung es nicht einmal fertigbrachte, auch nur die vorhandenen Ressourcen auszuschöpfen: 2018 wurden 770 Milliarden Rubel nicht ausgegeben, im vergangenen Jahr eine Trillion. Dieses Geld war vor allem für nationale Projekte verplant und hätte wenigstens ein kleines Wirtschaftswachstum herbeiführen können.
Putin hat nirgends von einer Carte
blanche für den neuen Ministerpräsidenten gesprochen, aber die Zusammensetzung des neuen Kabinetts tut es umso deutlicher: Mischustin hat mehrere seiner Vize-Ministerpräsidenten und Minister ernannt, und Putin hat die beiden letzten seiner alten und ihm nahestehenden Kollegen aus der Regierung entfernt: Dmitri Kosak und Witali Mutko.
Es war Kosak, der Putin in das Petersburger Rathaus holte, wo für den ehemaligen Offizier des KGB ein neues Leben im Staatsdienst begann. Mischustin hat seine Regierungsmannschaft selbst zusammengestellt, vielleicht ist es nun möglich, die bisherige Regierungspraxis zu beenden, über den Kopf des Ministerpräsidenten hinweg mit dem Präsidenten zu kommunizieren. Mischustins Vorgänger nahm häufig nicht einmal an den Sitzungen des Präsidenten mit seiner Regierung teil.
Wer bleibt, das sind die Angehörigen der Sicherheitsdienste und des Militärs, die Silowiki. So wird das vielleicht wichtigste Problem der russischen Entwicklung konserviert – die fast schon institutionalisierte Alimentierung der Silowiki durch die Wirtschaft. Die geistige Wurzel dieses Problems liegt in einem pervertierten Verständnis von Gerechtigkeit: Stillschweigend gilt, dass ein Beamter, der beim FSB oder bei der Polizei einen gewissen Rang einnimmt, das Recht hat, nicht schlechter, wenn nicht sogar besser zu leben als ein mittelständischer Geschäftsmann.
Das ist der Hintergrund einer Reihe von Enthüllungen und Verhaftungen, die die Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren schockierten, weil man selbst bei den Trägern von Schulterklappen weniger hoher Dienstränge Millionen Dollar und Milliarden Rubel fand. Wie Ruben Enikolopow, Rektor der New Economic School, einer privaten Wirtschaftshochschule in Moskau, scharf und offen kommentierte: „Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass eines der wesentlichsten Hemmnisse für das Wirtschaftswachstum das russische Rechtsschutzsystem ist, welches das Eigentum nicht schützt, die Korruption nicht bekämpft und oft genug als Knüppel zur Lösung bei geschäftlichen Streitigkeiten eingesetzt wird.“
Damit sich die Unternehmen entwickeln und die Wirtschaft erholen können, muss die Regierung paradoxerweise ihrem eigenen Machtblock entgegentreten, also all jenen, die für gewöhnlich als erste auf die Staatskasse zugreifen. Am schwierigsten wird es dabei sein, jener Gruppe von Personen zu widerstehen, die man „Putins Politbüro“ nennt, von denen die meisten gar keine wichtigen Ämter innehaben.
Hat die neue Regierung, in der es kaum noch politische Schwergewichte gibt, genug Willen und Entschlossenheit? Nicht ohne Grund charakterisiert die Politologin Tatjana Stanowaja sie alle zusammen folgendermaßen: „Sie sind konfliktscheu, pflichtbewusst, anpassungsfähig und politisch unauffällig. Putin könnte ihr Vater sein, sie gehören zur nächsten Generation, die in einer anderen, digitalen Welt lebt, die von der alternden Führung kaum verstanden wird.“
Mischustins politische Widerstandsfähigkeit gegen alle „Freunde“, Lobbyisten und Leiter staatlicher Unternehmen wird natürlich nicht ausreichen, wenn Putin nicht selbst zum Garanten für die Unabhängigkeit dieser Regierung wird. Dies liegt primär in seinem eigenen Interesse: Gerade diese Personen sollen den Präsidenten in der schwierigen Periode des großen Machttransits begleiten.
In einer Zeit des empfindlichen Einkommensrückgangs, des beinahe stagnierenden Wirtschaftswachstums, aufsehenerregender Korruptionsskandale und nicht zuletzt drückender Sanktionen ist Russland ein sehr zögerliches Land. Mischustin und seine Regierung werden sich die Gunst der Bevölkerung erkämpfen müssen.
Das wird nur mit einem Ergebnis möglich sein: Es braucht Wirtschaftswachstum. Nur damit wären die frustrierten Bürger zu überzeugen. Bislang erwarten laut Umfragen 46 Prozent der Russen von der neuen Regierung keine positiven Veränderungen, 9 Prozent gar eine Verschlechterung. Pessimistisch sind auch Experten.
In konzentrierter Form brachte das Andrei Mowtschan, einer der besten russischen Wirtschaftskommentatoren, in einem Artikel für die Carnegie-Stiftung zum Ausdruck. Mit einem ironischen Blick auf die neue Regierung, die eher einer Rechnungskammer ähnelt, weil so viele von ihnen ehemalige Mitarbeiter der Steuerbehörde sind, vergleicht er die Situation mit dem typisch russischen Warten auf einen wundersamen Umbruch, eine überraschende und irrationale Wendung zum Besseren. „Die zentrale Aufgabe von Putins Politökonomie ist es, so viel Steuern einzutreiben wie möglich“ so der Autor. „Aus diesem Grund wurde der erfolgreiche Leiter der föderalen Steuerbehörde Chef der Regierung. Weshalb man erwarten sollte, dass uns nun ein Anstieg der steuerlichen Belastung bevorsteht, zumindest in Gestalt einer extensiven Steuereintreibung, aber vermutlich nicht nur.“
Von künftigen Erfolgen Mischustins sieht Mowtschan nur einen voraus: die Bevölkerung und Wirtschaft auszupressen. Aber die ersten Schritte des neuen Ministerpräsidenten bestätigen die zentralen Thesen des prominenten Ökonomen keinesfalls: Im Gegenteil, die neue Regierung nahm die Diskussion über die Senkung der Sozialbeiträge von 30 auf 23-25 Prozent wieder auf.
Diese Reform kann zu einem Rückgang der Schwarzarbeit, steigenden Einkommen für die Bevölkerung und Gewinnen für die Wirtschaft führen und die Wettbewerbsfähigkeit steigern. In der Diskussion über die neue Regierung gehen russische Kommentatoren in keiner Weise darauf ein, dass die gewählte Option für die westlichen Partner und im Prinzip auch für Investoren vermutlich die akzeptabelste ist. Es wäre wahrscheinlich falsch zu glauben, Ziel der Einsetzung des neuen Kabinetts seien nicht ausländische oder generell private Investitionen, sondern nur mehr staatliche Regulierung.
Wirtschaftswachstum ohne eine weitere Öffnung der Wirtschaft ist in der heutigen Welt kaum möglich. Die Überwindung der Isolation wird für die neue Regierung die zentrale Frage sein. Mischustin ist, genau wie die anderen Neulinge in seiner Regierung, für den Westen im Kontext der kontroversen Probleme und der daraus folgenden Sanktionen nicht belastet. Kein einziger von ihnen steht in aktiver Beziehung zu den Ereignissen auf der Krim oder im Donbass, keiner von ihnen gilt als Propagandist oder Geschichtsrevisionist.
Die europäische Wirtschaft hat zurechnungsfähige und ideologisch nicht verblendete Partner bekommen. Man sollte auch nicht vergessen, dass Mischustin als seriöser Geschäftsmann zu den Gründern des Internationalen Computerklubs gehörte, einer Organisation, die fast allen wichtigen Herstellern der rasant wachsenden Computerwelt Geschäfte in Russland ermöglichte.
Buchstäblich in der ersten Stunde nach seiner Ernennung bezeichneten die meisten Kommentatoren Mischustin als einen technischen Ministerpräsidenten. Ob er zu einem politischen wird, hängt von zwei Personen ab: von Putin und von Mischustin selbst. Die Art und Weise, wie der neue Regierungschef empfangen wurde, deutet darauf hin, dass seine Aussichten auf die Loyalität der Elite sehr hoch sind. Unter den Bedingungen des Machtwandels erhält diese Loyalität einen neuen hohen Stellenwert.
Für Mischustin selbst ist es möglicherweise eine interessante und reizvolle Herausforderung, Politiker zu werden. Aber es ist ein Gang über ein Minenfeld: Das Ziel ist klar, aber die Perspektive diffus.
Viktor Loschak
ist Chefredakteur der russischen Ausgabe des Petersburger Dialogs. Er beobachtete die Wahl in seiner Heimatstadt Odessa.