Krieg der Erinnerungen
Es könnte das letzte Mal sein, dass Europa des Kriegsendes vor 75 Jahren in der Überzeugung gedenkt, den alliierten Sieg über Nazideutschland als den großen gemeinsamen „Erinnerungsort“ seiner jüngeren Geschichte zu betrachten. Die letzten Vertreter der Kriegsgeneration sterben aus und ihre Zeitzeugenschaft muss dem Deutungswettbewerb der Nachgeborenen weichen. Aus der Erinnerung an den Krieg ist längst, wie es die junge russische Historikerin Ekaterina Makhotina formuliert hat, ein „Krieg der Erinnerungen“ geworden.
Dieser wird nicht nur laut und vernehmlich zwischen Russland, Polen und den baltischen Staaten ausgetragen, sondern hat mit der jüngsten Resolution des Europaparlaments zur „Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins“ auch die ganze Union erreicht. Darin wird ein geschichtspolitischer Perspektivwechsel vollzogen, der in den mittelosteuropäischen Beitrittsländern schon länger im Gange ist. Radikaler könnte der nicht sein.
Denn er rückt den berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt ins Zentrum der europäischen Erinnerungskultur und macht ihn dadurch zum eigentlichen Ausgangspunkt des Zweiten Weltkriegs. Hitler und Stalin, heißt das im Klartext, treffe im Grunde dieselbe Schuld.
In russischen Ohren muss dieser Vorwurf ungeheuerlich klingen, denn er stellt mit dem Sieg über den Faschismus nicht nur den zweiten Gründungsmythos der alten Sowjetunion infrage, sondern betrifft auch das heutige Selbstverständnis Russlands. Dort empfindet man den eigenen Beitrag zur Befreiung Europas vom Faschismus immer noch als die letzte moralische Errungenschaft, die vom sowjetischen Erbe übriggeblieben ist. Jetzt sind wir also nur noch die Täter, bemerkt der Historiker Alexey Miller bitter, und die anderen sind nur die Opfer.
Dass diese geschichtspolitische Wende des Europaparlaments in Deutschland vergleichsweise wenig beachtet wurde, ist umso verwunderlicher, als in letzter Konsequenz auch das deutsche Selbstverständnis von der Singularität der Naziverbrechen in Frage gestellt wird. Das hat nichts mit einem westeuropäisch dominierten Weltbild zu tun, das die besondere Tragik Ostmitteleuropas verkennt. Es geht am Ende um ein gemeinsames Grundverständnis der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, das nicht auf dem Altar nationaler Geschichtsstrategien geopfert werden darf.