Samstag, 21. Dezember, 2024

Das Kriegsende aus ukrainischer Sicht

Von Tanja Penter Und nicht vergessen: In Köln-Sülz erinnert ein von Jugendlichen geschaffenes Denkmal seit 1981 an die Zwangsarbeiter.
Bild: picture alliance/imageBROKER

Die Faschisten erleben ihre letzten Stunden. Unsere Herzen sind freudig erregt. Die unsrigen sind nah. Wir warten ungeduldig auf sie, die Befreier“, notierte der ukrainische Wissenschaftler Michail Usyk, der die deutsche Besatzungsherrschaft in der ostukrainischen Stadt Charkow erlebte, während der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee in sein Tagebuch.

„Aber wie werden sie unseren, zumeist erzwungenen Dienst für die Deutschen bewerten?“, fragte er in freudiger, aber auch angstvoller Erwartung. „Die Provokateure unter den Deutschen verbreiten Gerüchte über den angeblichen Terror der ‚Roten’, über die Erschießung eines jeden, der für die Deutschen gearbeitet hat. Blödsinn! Lüge!“ Die Bevölkerung aus Charkow und anderen Städten habe so viel erleiden müssen und habe die Verdienste der Sowjetmacht schätzen gelernt. Die Bevölkerung werde künftig „die eifrigste und folgsamste“ sein und die beste auf der Arbeit. „Sie hat unter deutscher Herrschaft dem Hungertod in die Augen gesehen, den Verlust von Angehörigen erfahren, physische und moralische Unterdrückung ertragen. Sie weiß, was Sklavenarbeit bedeutet, hat die Kälte ausgehalten, ist ohne Licht und Wasser ausgekommen.“ Deshalb sei „ein riesiger Umschwung in der Haltung der Menschen gegenüber der Sowjetmacht festzustellen. Von dem Groll und Unmut über die Sowjetmacht, der in den Tagen als die Deutschen kamen hervortrat, ist jetzt keine Rede mehr.“

Die Hoffnungen und Erwartungen vieler Sowjetbürger, dass das Sowjetregime nach dem Triumph des Sieges einen Richtungswechsel vollziehen und dem Wunsch der Bevölkerung nach Brot und mehr Freiheiten nachgeben würde, wurden bald enttäuscht. Das Leben nach dem Krieg wurde zunächst nicht besser, sondern noch schlechter, so dass der Alltag der meisten Sowjetbürger weiterhin einem permanenten Ausnahmezustand glich, wie zuvor in den 1930er-Jahren und zu Kriegszeiten, und Not und Elend nun über den Sieg triumphierten.

Zeitzeugen erinnerten sich, dass sich direkt nach dem Krieg alle Gespräche nur darum drehten, wie man den nächsten Tag überlebte. Im Winter 1946/47 kam es nach einer Dürre erneut zu einer Hungersnot, welche die Ukraine, aber auch Teile Russlands betraf und die bis zu 1,5 Millionen Todesopfer forderte.

Die Sowjetunion ging aus dem Zweiten Weltkrieg als „armer Sieger“ hervor, der einerseits sein internationales Ansehen stark vergrößern, neben den USA zur Weltmacht aufsteigen und große territoriale Gewinne verzeichnen konnte, andererseits aber enorme Menschenverluste und Zerstörungen im eigenen Land hinnehmen musste. Die Demobilisierung der Armee, Reevakuierungen, Repatriierungen und Deportationen setzten gigantische Bevölkerungsbewegungen in Gang. Zudem wurden der wirtschaftliche Wiederaufbau und die Wiederherstellung der sozialen Ordnung nach der Befreiung der besetzten Gebiete von verschiedenen ethnischen, sozialen und politischen Säuberungen begleitet.

Was bedeutete das Kriegsende für die Bevölkerung der Ukraine? „Kriegsende, Sieg, Hurra! Endlich ist dieser lang ersehnte Tag gekommen. Es fällt mir schwer, meine Gefühle zu beschreiben. Wie viel Schreckliches mussten wir in diesen Jahren ertragen und jetzt liegt all dies hinter uns!“ Das schrieb die Kiever Studentin Nina Gerasimova am 9. Mai 1945 in ihr Tagebuch.

Als einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkriegs hatte die Ukraine große Zerstörungen erlitten. Die meisten Städte lagen in Trümmern, die Industrieanlagen waren zerstört. Hinzu kamen riesige Bevölkerungsverluste, die nach Schätzungen zwischen 6 und 9 Millionen Menschen umfassten. Etwa 1,5 Millionen ukrainische Juden fielen dem Holocaust zum Opfer. 2,4 Millionen Zwangsarbeiter, vor allem junge Frauen, waren ins Reich verschleppt worden.

Die deutschen Besatzungsverbrechen in der Ukraine – darunter der Massenmord an den ukrainischen Juden und Roma, die Ermordung von Kranken und Behinderten, der menschenverachtende Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen – sind bis heute erst in Ansätzen erforscht und Gegenstand eines Heidelberger Forschungsprojekts.

Die Bevölkerungsverluste der Ukraine waren umso dramatischer, als das Land bereits in der von der sowjetischen Führung zu verantwortenden, großen Hungersnot der Jahre 1932-1933 unter Stalin 4 Millionen Todesopfer zu beklagen hatte.

Der Anteil der Ukraine an den Opfern des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik ist in der europäischen Erinnerungskultur bis heute viel zu wenig präsent. Ein zukünftig in Berlin geplantes Denkmal für die polnischen Besatzungsopfer sollte daher auch die ukrainischen, sowie andere osteuropäische Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft einbeziehen.

Das Kriegsende brachte der Ukraine aber auch die Ausweitung ihres Territoriums gemäß der bereits 1939 im Hitler-Stalin-Pakt vereinbarten sowjetischen Annexion Ostpolens. Auf der Konferenz der Alliierten in Jalta war die Curzon-Linie als verbindliche Westgrenze der Sowjetunion festgelegt worden. Fast alle Ukrainer lebten nun in einem gemeinsamen Staatswesen, der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

Allerdings stellte die politische und wirtschaftliche Integration der West-

ukraine die sowjetische Nachkriegspolitik vor immense Herausforderungen. Die Zerschlagung der national-ukrainischen Kräfte, die im Krieg zeitweilig mit den Nazis kollaboriert hatten, stand in den ersten Nachkriegsjahren im Fokus der Aufmerksamkeit der sowjetischen Behörden, insbesondere der Geheimdienste, und band viele Ressourcen. Angehörige der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) setzten ihre Aktivitäten in der Westukraine nach Kriegsende fort und verübten Sabotageakte sowie Attentate auf Vertreter des Sowjetstaats, wobei sie teilweise starken Rückhalt in der Bevölkerung genossen.

Bis Mitte der 1950er-Jahre dauerte dieser Guerillakrieg in der Westukraine noch an. In den Gebieten Ostpolens führte die UPA nach 1945 parallel einen Krieg gegen die polnischen Behörden.

Der Spätstalinismus stand in der Ukraine allgemein im Zeichen einer Neuauflage des Kampfs gegen den ukrainischen Nationalismus, der begleitet war von Repressionen gegen ukrainische Intellektuelle und einer verstärkten Russifizierungspolitik. Die sowjetische Führung reagierte auf die Probleme nach dem Krieg mit den repressiven Mitteln der Vorkriegszeit und versuchte, die Bevölkerung mit den alten, erprobten Rezepten – Säuberungen, Repressionen und Mobilisierungspropaganda – unter Kontrolle zu bekommen.

Bis 1953 waren mehr als 320 000

Sowjetbürger als mutmaßliche

Nazi-Kollaborateure vom sowjetischen Geheimdienst festgenommen worden, davon 93 590 in der Ukraine. Die meisten der Festgenommenen wurden zu hohen Haftstrafen und Zwangsarbeit zwischen 10 und 25 Jahren oder sogar zum Tode verurteilt. Darunter waren sowohl Polizeikräfte, die im Auftrag der Deutschen gemordet hatten, als auch ehemalige ins Reich verschleppte Zwangsarbeiter oder Frauen, denen nur zur Last gelegt wurde, dass sie für die Deutschen geputzt und gekocht hatten.

Michail Usyks Befürchtungen bewahrheiteten sich: Nicht nur aktive Unterstützer der Deutschen wurden in der Ukraine des Vaterlandsverrats verdächtigt, sondern jeder, der unter deutscher Herrschaft gelebt hatte. Bei mehreren Millionen Einwohnern der besetzten Gebiete wurde nach dem Krieg ein Vermerk im Ausweis gemacht, der Karrierechancen einschränkte sowie andere Diskriminierungen und Stigmatisierungen mit sich bringen konnte.

Zugleich war die Sowjetführung immer wieder zu pragmatischen Zugeständnissen gegenüber dringend benötigten Fachkräften gezwungen, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu bewältigen. Massenhaft wurden bei diesem Wiederaufbau neue Gruppen von Zwangsarbeitern eingesetzt, darunter repatriierte Ostarbeiter und sowjetische Kriegsgefangene sowie deutsche Kriegsgefangene oder volksdeutsche Zivilisten, die aus Ost- und Südosteuropa in die Sowjetunion verschleppt worden waren. In einigen Betrieben im zentralen Steinkohlerevier des Donbass bestanden die Belegschaften im Oktober 1945 zu

80 Prozent aus diesen unfreien

Arbeitskräften.

Großangelegte ethnische Säuberungen prägten die ersten Nachkriegsjahre in ganz Ostmitteleuropa: Etwa

800 000 Polen wurden zumeist aus der Ukraine in den Westen deportiert; mehr als 500 000 Ukrainer wurden, oftmals unter Einsatz massiver Gewalt, vom sowjetischen NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) aus Polen in die Ukraine umgesiedelt. Etwa 150 000 Ukrainer, die sich der Zwangsaussiedlung widersetzten, wurden im Frühjahr 1947 im Rahmen der sogenannten Aktion Weichsel innerhalb Polens aus dem Südosten in den Norden und Westen des Landes zwangsumgesiedelt. Das sollte der Assimilierung der Ukrainer an die polnische Kultur dienen.

Für die „Aktion Weichsel“ waren fast ausschließlich polnische Truppen verantwortlich, sie war aber zweifellos mit Moskau abgestimmt und diente insbesondere der Schwächung des ukrainischen Widerstands. Zeitgleich wurden etwa 200 000 Westukrainer innerhalb der Sowjetunion in den sibirischen Gulag verschleppt. Die Nachkriegsregierungen der Sowjetunion und Polens koordinierten ihre ethnischen Säuberungen untereinander und entfernten auf beiden Seiten der polnisch-sowjetischen Grenze die Minderheiten aus ihrem Staatsgebiet.

Nachdem Juden und Polen bereits in den Kriegsjahren der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen und viele Ukrainedeutsche ausgewandert waren, stellten nun Russen die größte Minderheit in der Ukraine dar. Sie wanderten nach 1945 zu Zehntausenden als Fachkräfte und Arbeiter in die Westukraine ein. Im Ergebnis des Kriegs und der Nachkriegssäuberungen verlor die Ukraine ihren über Jahrhunderte gewachsenen, polyethnischen Charakter.

Für Polen und Ukrainer ist ihre wechselseitige Geschichte ethnischer Säuberungen ein schweres Erbe. Bereits in den Kriegsjahren war es zum Aufbrechen gewaltsamer ukrainisch-

polnischer Konflikte gekommen: Die UPA hatte seit 1943 Terrorakte gegen polnische Siedler in Wolhynien und Galizien verübt, denen etwa 100 000 Polen zum Opfer fielen, darunter viele Frauen und Kinder. Im Gegenzug ermordete die polnische Heimatarmee Armia

Krajowa etwa 20 000 Ukrainer.

Die 2015 verabschiedeten ukrainischen Geschichtsgesetze, die vorschreiben, dass Angehörige der OUN und UPA uneingeschränkt als „Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit“ geehrt werden müssen, stoßen in Polen daher auf massive Proteste. Einige polnische Historiker vertreten die Ansicht, dass die Morde ukrainischer Nationalisten an polnischen Zivilisten einem Völkermord gleichkommen. Polnische Gesetzesnovellen erklärten 2018 die Untersuchung der Verbrechen ukrainischer Nationalisten an polnischen Bürgern zu den zentralen Aufgaben zukünftiger polnischer Geschichtspolitik. Die politischen Beziehungen der Ukraine und Polens, die sich seit den 1990er-Jahren einander angenähert hatten, werden durch die geschichtspolitischen Kontroversen heute wieder zunehmend belastet.

Aktuellen Sprengstoff bieten konkurrierende Interpretationen der Geschichte des Zweiten Weltkriegs auch für die ukrainisch-russischen Beziehungen. Seit dem Euromaidan, der Krim-Annexion und dem Beginn des Kriegs im Donbass wurden propagandistisch verzerrte Geschichtsbilder zum Zweiten Weltkrieg von beiden Seiten als „Waffe“ in den aktuellen politischen Konflikten und zur Mobilisierung der eigenen Bevölkerung genutzt. Das schwierige Erbe des Zweiten Weltkriegs stellt die Gesellschaften in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch künftig noch vor große Herausforderungen.

Tanja Penter
ist Historikerin und Professorin für osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg.

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