Montag, 30. Dezember, 2024

Sport und Propaganda: Die Olympischen Spiele von 1936

Von Leonid Mletschin Siegerehrung für die Fechterinnen im Berliner Olympiastadion während der Olympischen Spiele 1936, Helene Mayer aus Deutschland gewinnt Silber. Obwohl sie, in der Logik der Nazis, Halbjüdin ist, zeigt Mayer – wie alle deutschen Medaillengewinner – den „deutschen Gruß“.
Bild: picture-alliance/dpa

Adolf Hitler trieb keinen Sport, er ging nicht einmal schwimmen, wenn er am Wasser war. Er genierte sich für seinen Körper und wollte sich nicht entkleiden, weil er Angst hatte, sich lächerlich zu machen. Aber Sport war politisch wichtig.

Das Kürzel SA stand ursprünglich nicht für „Sturmabteilung“, sondern für „Sportabteilung“. Hitler interessierte sich allerdings nicht sehr für Gymnastik. Aber er glaubte, körperliche Ertüchtigung könne in den Deutschen ein Gefühl der Überlegenheit erzeugen.

Das Internationale Olympische Komitee hatte Berlin als Austragungsort der XI. Olympischen Sommer- und Winterspiele 1936 ausgewählt, bevor die Nazis an die Macht kamen. Das war eine schöne Geste, man wollte einen Strich unter den blutigen Ersten Weltkrieg ziehen und Deutschlands Rückkehr in die Völkerfamilie feiern. Hitler nutzte diesen Glücksfall. Die Spiele sollten die Bedeutung des Regimes bezeugen und gleichzeitig die Überlegenheit der arischen Rasse beweisen, der Deutschen.

Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, erklärte: „Der deutsche Sport besitzt eine große Aufgabe und nur diese: den Charakter des deutschen Volkes zu bilden, ihm den Kampfgeist und die unerschütterliche Kameradschaft zu geben, die es im Kampf um seine Existenz notwendig hat.“

Für die filmische Dokumentation der Olympischen Spiele wurde die Tänzerin, Schauspielerin und Regisseurin Leni Riefenstahl engagiert, die keinen Hehl aus ihrer Begeisterung für den Führer machte. Hitler besuchte Riefenstahl sogar einmal zu Hause, keiner anderen Frau wurde diese „Ehre“ je zuteil.

Riefenstahl hatte bereits einen Film über den 6. Parteitag der NSDAP gedreht. Den Titel dafür steuerte Hitler persönlich bei: „Triumph des Willens“. Die Bilder aus diesem Film kennt jeder, der sich für die Geschichte des Dritten Reichs interessiert. Nach dem Krieg wird Riefenstahl sagen, es habe sich um eine rein dokumentarische Arbeit gehandelt, sie habe nichts dazu erfunden, und es gebe in dem ganzen Film nicht eine gestellte Szene. Aber der Film an sich ist eine große Lüge über Deutschland. Er zeichnet das Bild einer vollständigen Einigkeit von Volk und Partei, von Volk und Führer, von einem Land, in dem alles einem einzigen Willen untergeordnet ist.

Der Film „Triumph des Willens“ bekam 1935 den Nationalen Filmpreis, die höchste staatliche Auszeichnung in diesem Bereich. Minister Goebbels bescheinigt dem Film hohen künstlerischen Wert. Diesen Erfolg wollte Riefenstahl wiederholen.

Während der Olympischen Winterspiele 1936, die zwischen dem 6. und 16. Februar in Garmisch-Partenkirchen stattfanden, trafen die Nazis außerordentliche Sicherheitsmaßnahmen. Überall sah man SS-Männer in ihren schwarzen Uniformen. Hitlers persönliche „Leibstandarte Adolf Hitler“ wurde zu den Spielen abgestellt. Kommandiert wurde die Einheit von SS-Obergruppenführer Sepp Dietrich, der seine Befehle direkt vom Führer erhielt.

Am Tag der Eröffnung der Spiele kam Hitler im Sonderzug aus München am Bahnhof Kaiserbad an, kurz nach 10 Uhr morgens. Reichsinnenminister Wilhelm Frick, Kriegsminister Generaloberst Werner von Blomberg, der Gauleiter von Oberbayern und bayrische Innenminister Adolf Wagner sowie der Reichssportführer, SA-Gruppenführer Hans von Tschammer und Osten, nahmen ihn in Empfang. Hitler schritt die Ehrenwache ab und begab sich ins Ski-Stadion. Es gab viele Wachen, sogar mehrere SS-Männer auf Skiern. Aber der Führer nahm nur einige wenige Male an den Winterspielen teil. Dafür besuchte er die olympischen Sommerspiele in Berlin vom 1. bis 16. August praktisch jeden Tag.

Viktor Klemperer hasste sie. „Die Olympiade, die nun zu Ende geht, ist mir doppelt zuwider“, schrieb der Dresdner Professor in sein Tagebuch. „1. als irrsinnige Überschätzung des Sports; die Ehre eines Volkes hängt davon ab, ob ein Volksgenosse zehn Zentimeter höher springt als alle andern. Übrigens ist ein Neger aus USA am allerhöchsten gesprungen und die silberne Fechtmedaille für Deutschland hat die Jüdin Helene Mayer gewonnen (ich weiß nicht, wo die größere Schamlosigkeit liegt, in ihrem Auftreten als Deutsche des Dritten Reiches oder darin, dass ihre Leistung für das Dritte Reich in Anspruch genommen wird). Und 2. ist mir die Olympiade so verhaßt, weil sie nicht eine Sache des Sports ist – bei uns meine ich –, sondern ganz und gar ein politisches Unternehmen. ‚Deutsche Renaissance durch Hitler’ las ich neulich. Immerfort wird dem Volk und den Fremden eingetrichtert, daß man hier den Aufschwung, die Blüte, den neuen Geist, die Einigkeit, Festigkeit und Herrlichkeit, natürlich auch den friedlichen, die ganze Welt liebevoll umfassenden Geist des Dritten Reiches sehe.“

Am 15. September 1935 waren die auf dem Parteitag in Nürnberg verabschiedeten Rassegesetze in Kraft getreten. Den Juden wurde die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, sie verloren das Wahlrecht, Ehen zwischen Ariern und Nichtariern wurden verboten. Und jüdische Sportler durften die Sportplätze nicht mehr betreten.

Den Nazi-Beamten wurde die Aufgabe erteilt, verborgene Juden aufzuspüren und den Prozentanteil jüdischen Blutes bei den „Mischlingen“ zu messen. Diesen Begriff hatten die Nazis aus der Agrarwissenschaft übernommen, wo er ein Tier oder eine Pflanze bezeichnet, die durch die Kreuzung verschiedener Arten oder Sorten entstanden ist. Am 14. November 1935 erschien die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz, die die Begriffe „(Voll)Jude“, „Mischling ersten Grades“ (50 Prozent jüdisches Blut) und „Mischling zweiten Grades“ (25 Prozent jüdisches Blut) definierte.

Hitler war davon überzeugt, dass echte Sportler nur Angehörige der arischen Nation sein konnten. Das Reichsportamt erhielt Anweisung, hundertprozentig arische Mannschaften zusammenzustellen.

Die Leichtathletin Margaret „Gretel“ Bergmann galt als sichere Kandidatin auf die Goldmedaille im Weitsprung. Aber man entzog ihr die Teilnahmeberechtigung an den Spielen. Zwei Wochen vor Beginn der Wettbewerbe teilte man ihr mit, sie sei nicht zugelassen, weil in ihren Adern jüdisches Blut fließe.

Doch Deutschland benötigte dringend ein paar hervorragende Sportler. Um sie zu bekommen, versuchten die Nazis alle nur denkbaren Tricks. Die Rassegutachter hatten die Fechtmeisterin Helene Mayer zur Halbjüdin erklärt. Man hatte ihr die Staatsbürgerschaft entzogen, und sie war in die USA ausgereist. Kurz vor den Olympischen Spielen mussten die Nazis sie bitten, für die deutsche Mannschaft anzutreten. Helene Mayer antwortete, sie würde nur antreten, wenn sie und ihre Familie wieder die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten.

Mayer hatte nicht vor, nach Nazideutschland zurückzukehren. Doch es ging ihr ums Prinzip. Hitler musste nachgeben. Mayer gewann die Silbermedaille, aber nach dem Fechtwettbewerb der Frauen weigerte Hitler sich, ihr zu gratulieren, desgleichen auch den Sportlerinnen, die Gold und Bronze gewonnen hatten. Alle drei waren Jüdinnen. Ein herber Schlag für Hitler und seine Rassentheorie.

Zu Hitlers großer Enttäuschung wurde der dunkelhäutige Amerikaner Jesse Owens zum Helden der Sommerspiele. Er gewann viermal Gold, dreimal im Laufen und einmal im Weitsprung, und stellte zwei Weltrekorde auf. An den olympischen Spielen nahmen 18 Afro-

amerikaner teil, 14 von ihnen gewannen Medaillen. Hitler war dermaßen erbost, dass er ihnen bei der Siegerzeremonie den Handschlag verweigerte.

Viele Jahre nach dem Krieg kam man auf die Idee, in West-Berlin eine Straße nach Jesse Owens zu benennen – etwa die Chaussee, die zum Stadion führt. Die Berliner Stadtverwaltung fand bei mehreren Initiativen einen Grund für eine höfliche Absage. Meistens hieß es, der Namensgeber für eine Straße müsse mindestens fünf Jahre tot sein.

Jesse Owens kam den Berliner Bürokraten so weit wie möglich entgegen, er starb im Alter von 66 Jahren an Lungenkrebs. Mehrere Regierende Bürgermeister von West-Berlin kamen und gingen, bis diese Idee endlich realisiert wurde. 1984, vor den Olympischen Spielen in Los Angeles, wurde die Namensgebung beschlossen.

Bei der feierlichen Zeremonie trat der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der Bundesrepublik Willi Daume auf. Er erklärte, es sei nicht richtig zu glauben, Hitler habe dem schwarzen amerikanischen Sportler nicht die Hand gegeben. Er sei vielmehr vom Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees darauf aufmerksam gemacht worden, dass der Händedruck der olympischen Tradition widerspreche. Hitler habe dem entsprochen. Es sei nicht Ausdruck von Rassismus gewesen.

Das konnte natürlich nur glauben, wer die Memoiren Baldur von Schirachs, des Reichsjugendführers der NSDAP, nicht gelesen hatte: „Star der Olympischen Spiele 1936 wurde der Sprinter Jesse Owens, ein farbiger Amerikaner. Als Hitler ins Stadion kam, hat er den Siegern persönlich gratuliert. Als Jesse Owens den Hundertmeterlauf gewonnen hatte, sagte Hitler: ‚Die Amerikaner sollen sich schämen, dass sie sich ihre Medaillen von Negern gewinnen lassen. Ich werde diesem Neger nicht die Hand geben.‘“

Was brachte Daume dazu, eine für Hitler vorteilhaftere Version dieser Ereignisse vorzutragen? Vielleicht sein eigenes Parteibuch mit der Nummer 6098980? Der zukünftige Präsident des Olympischen Komitees der Bundesrepublik war Mitglied der NSDAP gewesen.

Hitler legte die Premiere des Films „Olympia“ auf seinen Geburtstag und gratulierte Riefenstahl als Erster: Sie habe „ein Meisterwerk“ geschaffen, für das ihr die ganze Welt dankbar sein werde.

Das Berlin des Jahres 1936 war geschmückt mit Hakenkreuzen und den roten Fahnen der NSDAP. Aber während der Olympischen Spiele gab es einige Lockerungen. Die üble antisemitische Zeitung Der Stürmer von Julius Streicher (nach dem Sieg über das Dritte Reich wird er bei den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt) wurde vorübergehend aus dem Verkauf genommen.

Vor den Spielen wurden potenzielle Gegner des Regimes aus der Öffentlichkeit entfernt, damit sie den Ausländern nichts erzählen konnten. Polizei, Gestapo und SD nahmen über 11 000 Personen fest, die verdächtigt wurden, mit Sozialismus oder Kommunismus zu sympathisieren.

Aber die Gäste der Olympischen Spiele waren außerordentlich taktvoll und stellten keine peinlichen Fragen. Die ausländischen Journalisten berichteten, dass die Nazis insgesamt erfolgreich seien: Die Gäste gaben sich Mühe, den verbrecherischen Charakter des Dritten Reichs zu übersehen.

Nazi-Deutschland schien vielen ein ideales Modell. Die Arbeitslosigkeit sank, die Wirtschaft erlebte einen Aufschwung, es herrschte Ordnung im Land. Vor dem Hintergrund der Aggression des faschistischen Italiens in Afrika, des kaiserlichen Japans in China und angesichts der Stalinschen Repressionen erschien den ausländischen Diplomaten und Politikern die Hitler-Regierung durchaus gemäßigt.

Und vor allem wollten in den 1930er-

Jahren die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs auf jede Art und Weise einem Konflikt mit Deutschland oder gar einem neuen Krieg aus dem Weg gehen. Damals gestalteten sich zwischen Großbritannien und Deutschland freundschaftliche Beziehungen.

Die Schwester des britischen Premierministers Boris Johnson erzählte: „Man hat uns immer gesagt, unsere Großmutter väterlicherseits sei Französin, aber es hat sich herausgestellt, dass sie Deutsche war. Und unsere Großmutter mütterlicherseits ging in den 30er-Jahren in Bayern zur Schule. Sie liebte die Münchner Oper, lief in den Bergen Ski und hat sich sogar in ihren Skilehrer verliebt. Als sich dann herausstellte, dass er Mitglied der NSDAP war, kehrte sie entsetzt nach England zurück. Aber die anderen genierte nichts. Die höhere Gesellschaft Englands schickte ihre Kinder gern nach Deutschland.“

Besonders eng waren die Beziehungen der Eliten. Mitglieder des britischen Königshauses hatten deutsche Vorfahren. Die britischen Zeitungen schrieben, was für ein wunderbares Land Deutschland sei, und wie tüchtig Hitler das deutsche Leben umbaue. Den Briten und vor allem den Britinnen gefiel es im Dritten Reich. Viele erinnerten sich später: „Das war die beste Zeit in unserem Leben. Ja und Hitler… er ist bloß zu weit gegangen.“

Großbritannien zwischen den Kriegen – das war Arbeitslosigkeit, schlechtes Essen und schlechtes Wetter. Aber in Bayern, wo die NSDAP gegründet wurde, wo sich Hitlers Residenz befand, gab es frische Bergluft, eine bedeutende Oper und junge Deutsche in Uniform. Die britischen Aristokraten sahen, wie die SS marschierte, aber das erschreckte sie nicht, ihre eigenen Eltern waren häufig Antisemiten. „Meine Regierung hat sich in Bezug auf Deutschland unklug verhalten“, sagte der britische Botschafter Neville Henderson. „England und Deutschland müssen enge Beziehungen aufbauen und die Welt beherrschen.“

In Großbritannien gab es ebenfalls Faschisten. Oswald Mosley, der Führer der britischen Faschisten, einer der auffälligsten Politiker jener Zeit, erschien für einige Zeit wie ein aussichtsreicher Kandidat für den Posten des Premierministers.

Im Februar 1934 reiste der spätere Premierminister und damalige Lordsiegelbewahrer Antony Eden zu Gesprächen mit der neuen deutschen Regierung nach Berlin.

Beim Mittagessen tauschten der Weltkriegsveteran und ehemalige Gefreite Hitler und der ehemalige Hauptmann Eden Kriegserinnerungen aus. Auf der Rückseite einer Speisekarte zeichneten sie die Stellungen ihrer Einheiten an der Somme ein. Es stellte sich heraus, dass sie buchstäblich gegeneinander Krieg geführt hatten. Eden kam zu dem Schluss, dass Hitler aufrichtig an Frieden interessiert sei. Er verließ Berlin in der Überzeugung, dass man mit der nationalsozialistischen Regierung verhandeln könne.

Ein Jahr später veröffentlichte die Times einen Artikel Lord Lothians, der nach einem Aufenthalt in Deutschland als glühender Anhänger Hitlers zurückgekehrt war: „Der Nationalsozialismus ist eine Bewegung der individuellen und nationalen Selbstachtung. Wichtigster Faktor der heutigen Politik in Europa ist die Tatsache, dass Hitler keinen Krieg will und bereit ist, Kriege für immer zu beenden, wenn man ihm und Deutschland auf Augenhöhe begegnet. Hitler verzichtet nicht auf Krieg, weil er Pazifist wäre, sondern weil er weiß, was Krieg bedeutet.“

Tatsächlich log Hitler natürlich das Blaue vom Himmel herunter. Warum soll man seinen Feinden auch die Wahrheit sagen? Die bodenlosen Lügen des Führers wurden von der staatlichen Propagandamaschine nach Kräften unterstützt. Sie setzte dabei die neuesten Technologien der Zeit ein, das Radio, das Grammophon, den Film. Hitler war so daran gewöhnt, zu lügen, dass er selbst die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit nicht mehr sah. Aber es gereichte ihm zum Vorteil. Weil seine Verhandlungspartner sich einfach nicht vorstellen konnten, dass ein Staatschef imstande ist, hemmungslos zu lügen.

Die Blindheit und Naivität der europäischen Politiker waren es, die Hitler zum Erfolg verhalfen, weil sie seinen Hass auf die Welt nicht erkannten und bis zum Schluss daran glaubten, sie könnten ihn beeinflussen, ihn in Schach halten und dazu bewegen, Maß zu halten.

Aber Hitler mit seinem kriminellen Verstand konnte man nicht bändigen. Drei Jahre nach den Olympischen Spielen begann er den Zweiten Weltkrieg.

Leonid Mletschin ist ein vielfach ausgezeichneter russischer Print- und Fernsehjournalist sowie Autor zahlreicher Bücher, darunter zeithistorische Werke und eine Breschnew-Biografie. Er lebt in Moskau.

Leonid Mletschin
ist ein vielfach ausgezeichneter russischer Print- und Fernsehjournalist sowie Autor zahlreicher Bücher, darunter zeithistorische Werke und eine Breschnew-Biografie. Er lebt in Moskau.

Politik & Wirtschaft