Montag, 30. Dezember, 2024

Die Restauration des Kusses – Dmitri Vrubel über sein weltbekanntes Gemälde in der East Side Gallery

Von Andrei Archangelski

Seit dreißig Jahren ist die Mauer weg, aber sie ist noch immer da. Viele Ostdeutsche denken voller Nostalgie an die DDR. Genau wie im heutigen Russland, wo sehr viele Menschen sich die UdSSR zurückwünschen. Damals schien alles evident, man glaubte, man müsse nichts erklären. Aber 30 Jahre später weiß man: Man muss den Menschen immer wieder erklären, was die Freiheit kostet.

Eine der wichtigsten „Erklärungen“ dieser Art ist die Arbeit des russischen Künstlers Dmitri Vrubel, die in Deutschland als „der Bruderkuss“ bekannt ist. Man sieht darauf den ehemaligen Generalsekretär der UdSSR Leonid Breschnew und den Staatsratsvorsitzenden der DDR Erich Honecker im Kuss vereint. Vrubel malte dieses Bild im April 1990 innerhalb von fünf Tagen auf ein erhalten gebliebenes Fragment der Berliner Mauer, heute bekannt als East Side Gallery. 2009 restaurierte er das Bild auf Bitten des Senats, desgleichen ein weiteres mit dem Titel „Danke Andrej Sacharow“.

Petersburger Dialog: Ihr Bild ist heute sehr symbolträchtig, man kann sehr vieles darin sehen: den Kuss der Partei, die Umarmung des Totalitarismus usw. Als Sie dieses Gemälde 1990 schufen, welche Philosophie, welcher Gedanke stand dahinter?

Dmitri Vrubel: Bis heute streiten sich vier Photographen darum, die Vorlage für mein Bild geliefert zu haben. Aber für alle, die damals in der UdSSR lebten, waren diese Bruderküsse Routine, sie gehörten zum Leben. Und als man mir im April 1990 anbot, ein Bild auf die Berliner Mauer zu malen, da kam mir sofort dieses Motiv in den Kopf.

Als ich damals die Mauer erstmals sah, gab es dort schon zehn oder 15 Arbeiten. Zwei davon fielen mir sofort auf. Auf der einen war ein Davidstern vor dem Hintergrund der DDR-Flagge abgebildet, das sah ziemlich cool aus; auf dem zweiten sah man Gorbatschow am Steuer eines Trabants und darunter die Zeile: „Gorbatschow, lass uns ans Ruder!“ Die anderen waren Arbeiten von Laien.

Ein Bild ist ein Kommunikationsmittel, und im Grunde stand ich vor der gleichen Aufgabe, die ich einige Zeit vorher in Moskau zu bewältigen hatte. Aber dort kommunizierte ich durch meine Wohnungsausstellungen vor allem mit Kollegen, mit einem engen Kreis von Interessierten.

1987 beschwerte sich eine Nachbarin über mich, ich weiß nicht, vielleicht roch es ihr zu stark nach Farbe. Deshalb kamen zwei Damen von der Wohnungsverwaltung zu mir, um zu sehen, was ich da machte. Ich schaue sie an und denke: Ich könnte jetzt ein riesiges Theater machen, ich könnte ihnen aber auch meine Ausstellung zeigen. Also beschloss ich, ihnen meine Bilder zu zeigen.

Als sie gingen, waren sie richtig ergriffen, und sie machten mir keinerlei Schwierigkeiten. Da begriff ich plötzlich, dass meine Bilder nicht nur einen engen Kreis von wenigen Menschen ansprechen, sondern alle.

Als man mich nach Berlin einlud, spürte ich, dass es jetzt darum ging, die Deutschen anzusprechen. Dabei war mir schon klar, dass es ein Ost- und ein Westberlin gab, und dass die Menschen in beiden Teilen unterschiedlich waren. Was ich zu sagen hatte, sollten beide verstehen. Und natürlich musste eine russische Figur dabeisein.

Breschnew war zu dieser Zeit schon seit sieben Jahren tot, aber das schien niemanden zu irritieren. Alle verstanden anscheinend, dass es nicht um bestimmte Personen ging, sondern um Symbole. Stimmt das?

Vor fünf Jahren bin ich mal in Berlin mit der Straßenbahn gefahren, und da hörte ich ein Gespräch zweier junger Leute, die sagten: Wir müssen zur Berliner Mauer gehen und uns das Bild ansehen, auf dem Gorbatschow mit Kohl oder Kennedy knutscht. In gewisser Weise war Breschnew ein Symbol für alles Sowjetische, aber den Menschen war es offenbar nicht so wichtig, wer auf dem Bild zu sehen war.

Heute bin ich selten an der Mauer, aber wenn ich hingehe, schaue ich mir immer die Menschen an. Und mir wird klar, dass für sie das Wichtigste an dem Bild ist, dass der Kuss echt ist, absolut aufrichtig, dass es nicht nur um Politik geht.

Das Politische daran ist die Berliner Mauer selbst. Sie ist ein für die heutige Jugend ganz unverständliches Bauwerk: ein Zaun, eine undurchdringliche Wand, in jedem Fall etwas nicht sehr Positives. Und dann ist da auf einmal etwas hundertprozentig Positives, und das wirkt dort meiner Meinung nach am stärksten. Wer die Menschen auf dem Bild sind, das ist nicht so wichtig.

Und wie hat Ihre Arbeit die Zeit zwischen 1990 und der Restauration 2009 überstanden?

Bis 2009, als dieser Abschnitt der Mauer zum Denkmal erklärt wurde, war ihr Status und auch der Status des Bilds völlig unklar. Vielleicht war die hauptsächliche Funktion im Endeffekt ja die, dass es sich zu einem Ort entwickelt hatte, an dem kollektive Emotionen zum Ausdruck kamen. Die Menschen haben natürlich ihre Namen darauf geschrieben, und nach 20 Jahren war meine Arbeit fast vollständig zugekritzelt, in allen Sprachen der Welt. 2009 war von der Arbeit praktisch nichts mehr übrig, nur noch der Schriftzug oben drüber und ein wenig von Breschnews Haaren, weil die Leute nicht so hoch kamen. Aber immer noch ließen sich die Menschen vor dieser Arbeit fotografieren.

Ich begann mit der Restauration am gleichen Tag im April wie 1990. Aber ich kam vier Tage lang gar nicht zum Malen, weil ich ständig Interviews geben mußte. Und als ich dann endlich anfing, packte mich ein Heidenschreck, weil ich nicht mehr wusste, wie ich es gemacht hatte; und weil es nicht so werden konnte wie damals, so wie alle um mich herum, die Journalisten, Berliner, Europäer, diese Arbeit in Erinnerung haben.

Es war ja für viele Menschen Teil ihres Lebens geworden. Auch wenn es paradox erscheint, die Tatsache, dass ich in den 20 Jahren besser malen gelernt hatte, machte mir jetzt zusätzlich Probleme. Am fünften oder sechsten Tag, als ich merkte, dass ich es irgendwie hinkriege, schrieben fünf Zeitungen auf ihrer Titelseite, dass ich Berlin den Bruderkuss zurückgeben würde. Das nahm ich als ein gutes Zeichen.

Warum beschloss man, einen Teil der Berliner Mauer stehen zu lassen? Als Erbauung für spätere Generationen?

Die Erklärung ist viel nüchterner. Tatsächlich wäre beinahe die ganze Mauer abgerissen worden. Aber dann ist dieser Ort zu einem starken Anziehungspunkt für so viele Menschen geworden. Das lag daran, dass man Anfang der 1990er-Jahre in Ostberlin von extrem wenig Geld leben konnte. Dort entstanden Wohngemeinschaften, Häuser wurden besetzt, es gab unglaublich viele Hippies und Punks. Und dann waren da noch diese Ruinen der Berliner Mauer, das gab es sonst nirgendwo auf der Welt. Das alles zog Millionen von Touristen an.

Geblieben ist von der Mauer eine Gedenkstätte, zu der die Touristen strömen, sie liegt in einem der zentralen Bezirke Berlins. Noch 1996 sollte das alles abgerissen werden, die Diskussion entbrannte noch einmal 2009. Schließlich brachte man 2 Millionen Euro für die Restauration zusammen und lud auch uns Künstler dazu ein.

Eine hohe Betonmauer, die das Volk trennte, das ist ein starkes Bild. Wenn man es aus der Perspektive der Kunst betrachtet – wie funktioniert das heute?

Viktoria Timofejewa und ich arbeiten seit drei Jahren an Virtual-Reality-Projekten. Mit speziellen VR-Headsets kann man gewissermaßen im Inneren eines Bilds herumreisen. Bei einer unserer Arbeiten bewegt sich der Betrachter auf dem Mauerstreifen, so wie er, sagen wir mal, im Jahr 1985 aussah. Es gibt die Option, zwischen den beiden Betonwänden entlangzugehen, wo früher nur die Wachposten patrouillierten.

Das war ein seltsames Gefühl. Die Mauer war 3,60 Meter hoch. Wenn man auf dem eigentlich kahlen Grenzstreifen geht, also zwischen den beiden Mauern, sieht man im Prinzip überhaupt nichts von der Stadt. Man hat ein Gefühl, als ging man buchstäblich einen „Weg ins Nirgendwo“, und das über viele Kilometer. Nach einer gewissen Zeit wirst du ganz konfus, weil alles gleich ist und man absolut nicht versteht, wozu das alles da ist.

Für einen Grenzposten war das vermutlich zweckmäßig. Aber wenn ein normaler Mensch dort landet, ist es praktisch reine Kunst: die beiden Mauern, der Kontrollstreifen, Panzersperren und Stacheldraht. Das schafft ein merkwürdiges Gefühl. Kennen Sie den Film „Erinnerung an die Zukunft“, mit den Außerirdischen? Genau so ist es zwischen den Mauern. Es ist, als hätten Außerirdische die Mauer gebaut, und wir verstehen nicht wozu.

Ich finde diese punktierte Linie sehr beeindruckend, die durch die ganze Stadt verläuft, genau dort, wo sich früher die Mauer befand. Man stellt sich vor, dass vor etwa 30 Jahren Menschen beim Versuch, sie zu überwinden, ihr Leben verloren haben. Und jetzt macht man einen Schritt und befindet sich auf der anderen Seite, man bemerkt es gar nicht. Das ist eine unglaubliche Erfahrung.

In der Nähe unserer Wohnung gibt es zwei Fragmente der Mauer. Wenn ich früher meinen Sohn Artjom in die Schule brachte, gingen wir jeden Tag zur U-Bahn-Station Bernauer Straße; die war bis in die 1980er-Jahre zubetoniert, weil nebenan die Mauer verlief. Und ich erklärte Artjom, dass sich genau dort die Mauer befunden hatte. Wenn man dort stand, am Eingang zur U-Bahn, war man noch in Sicherheit, aber sobald man diese Linie überschritt, war man tot. Und er sprang mit seinen 13 Jahren über die Linie und sagte: „Jetzt lebe ich, und jetzt bin ich tot.“ Die abgerissene Mauer bleibt uns immer im Gedächtnis. Sie ist immer noch ein Teil des Lebens der heutigen Menschen.

Kann sie den Menschen eine Lehre sein, eine Mahnung?

Für uns nicht. Uns kann sie keine Lehre sein, wir haben sie ja nicht gebaut. Weder ich, noch Sie, noch die Deutschen aus meinem Bekanntenkreis. Aber die, die sie gebaut haben, und ihre Nachfolger, die haben zweifellos aus dieser Geschichte eine Lehre gezogen. Eine ganz praktische: Die Mauer muss nicht 3,60 Meter hoch sein, sondern mindestens 15 Meter, sonst erfüllt sie ihren Zweck nicht.

In den 1970er-Jahren baute man in Westberlin ganz dicht an der Mauer ein Bürohochhaus des Axel-Springer-Verlags, wo die Bild-Zeitung erscheint. An der Fassade liefen non-stop Nachrichten aus aller Welt. Natürlich, damit die DDR-Bürger das lesen konnten.

Daraufhin baute die Regierung der DDR gegenüber so etwas Ähnliches wie den Kalinin-Prospekt (Neuer Arbat) in Moskau, mit genau solchen Hochhäusern, damit die Menschen diese Nachrichten nicht sehen konnten. In diesen Hochhäusern wohnten Parteibonzen und bewährte Genossen, weil die Fenster ja direkt nach Westberlin blickten. Diese Wolkenkratzer waren bei der jugendlichen Schickeria Ostberlins sehr beliebt. Allein der Blick aus dem Fenster war natürlich eine tödliche Gefahr für den Sozialismus.

Die Menschen, die heute noch immer Mauern bauen und diese Mauer natürlich gerne wieder aufbauen würden, gibt es nach wie vor überall auf der Welt, nicht nur bei uns in Russland, sondern auch in China und in Nordkorea, und die werden natürlich die Fehler der „Erbauer des Sozialismus“ in der DDR berücksichtigen.

Das Paradoxe ist, dass es zwar die Mauer im buchstäblichen Sinne nicht mehr gibt, aber dafür existiert sie im Bewusstsein der Menschen, und diese Mauer ist viel stabiler. Es geht dabei nicht nur um die, die sich nostalgisch nach der UdSSR sehnen, sondern auch in Deutschland gibt es noch immer Menschen, die trotz allem, was man über den Totalitarismus weiß, gern in die Vergangenheit zurückkehren würden.

Gerade waren Wahlen in Brandenburg und Sachsen. Das ist die ehemalige DDR. Zweitstärkste Partei ist die AfD, eine rechtspopulistische Partei, die viele für nazistisch halten. Einige sagen, das hänge damit zusammen, dass in den Köpfen vieler Menschen immer noch die DDR stecke. Das ist wahr.

Aber es gibt auch noch eine andere Wahrheit. Seit dem Mauerfall sind 30 Jahre vergangen. Wenn man sich eine Karte von Deutschland anschaut, auf der die Verwaltungen der größten deutschen Unternehmen verzeichnet sind, dann sieht man, dass sich 90 Prozent dieser Büros im Westen befinden. Der Osten ist leer. Sogar in Berlin, das doch eigentlich die Hauptstadt ist, hat fast jedes deutsche Unternehmen nur eine Niederlassung. Von Cottbus oder Frankfurt/Oder ganz zu schweigen.

Das gleiche Bild ergibt sich, wenn man die Zahl der Fachkräfte im Osten und im Westen vergleicht. Eine große Zahl der DDR-Fachkräfte ging in den 1990er-Jahren in den Westen. Die Folge war, dass sich der Osten nicht so schnell entwickeln konnte. All das erzeugte bei den Menschen ein Gefühl der Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Zweitklassigkeit.

Vier Millionen Wolgadeutsche konnten nach 1989 nach Westdeutschland ausreisen; als die ersten Flugzeuge und Züge aus Omsk/Sibirien, Kasachstan und Kirgisien ankamen, war das für diese Menschen eine gewaltige Erschütterung. In der UdSSR hatte man 60 Rubel Rente, dort gab es 200 Mark. Wohnung und medizinische Versorgung wurden bezahlt. Damals in den 1990er-Jahren war das für sie ein Glück. Dreißig Jahre später sollten sie genauso deutsch sein wie alle anderen.

Aber für die 700 000 Rentner aus der ehemaligen UdSSR liegt das Rentenniveau laut Statistik 30 Prozent niedriger als bei den in Deutschland Geborenen. Das ganze Pathos, das mit dem Erwerb der Freiheit zusammenhing, wurde bei vielen Menschen unter der Last der alltäglichen Sorgen und Enttäuschungen begraben, die sich in diesen drei Jahrzehnten angesammelt hatten. Das muss man auch berücksichtigen.