Kirill Petrenko: Aus der Provinz auf den Olymp
Seinen Auftakt bei den Berliner Philharmonikern hat Kirill Petrenko gleich mit einem großen Tusch begangen: Vor dem symbolträchtigen Brandenburger Tor eröffnete er seine Amtszeit als Chefdirigent eines der berühmtesten Orchester der Welt mit Beethovens 9. Sinfonie. Dem Open-Air-Konzert Ende August durften die Berliner bei freiem Eintritt lauschen, 35 000 Menschen nahmen diese Einladung an. Intensiver hätte das Kennenlernen des neuen Maestros kaum ausfallen können: Ein lauer Sommerabend vor berauschender Kulisse, eines der intensivsten Orchesterwerke der Musikgeschichte und schließlich der finale Choral zu Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ – mehr überwältigende Verlockung ist zu Beginn kaum denkbar.
Petrenko selbst hatte im Vorfeld angekündigt, dass für ihn nur diese eine Komposition bei seinem Einstand in Frage gekommen sei. Diese Sinfonie „enthält all das, was uns Menschen auszeichnet, im Positiven wie im Schlechten“, sagte Petrenko auf der Jahrespressekonferenz der Berliner Philharmoniker im April. „Wenn wir eine Botschaft an einen fernen Planeten schicken wollen, die unsere fantastische Kultur ebenso zeigt wie all die schrecklichen Dinge, die Menschen getan haben, kann das nur Beethovens Neunte sein.“
In Berlin ist Petrenko mit großer Vorfreude und vielen Vorschusslorbeeren empfangen worden. Das Orchester, so war zu hören und zu lesen, sehe der neuen Ära erwartungsvoll entgegen, es gebe „keine kritische Stimme“ unter den Musikern, sagte der Solo-Oboist Albrecht Mayer gegenüber der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel.
Petrenkos unermüdliches Ringen um den perfekten Klang, sein fordernder, aber stets an der Musik orientierter Enthusiasmus und seine uneitle Bescheidenheit haben das Orchester schon bei früheren Zusammenarbeiten sehr für den 1972 im sibirischen Omsk geborenen Dirigenten eingenommen. Nun sind die Berliner Philharmoniker, eine Ansammlung von Spitzenmusikern an ihrem jeweiligen Instrument, mehr als neugierig, welche musikalischen Sphären sie mit Petrenko erreichen können.
Es ist nicht das erste Mal, dass aus dem kleinen Städtchen Meiningen in der thüringischen Provinz die musikalische Karriere eines herausragenden Orchesterleiters nach Berlin führt.
Damals war es Hans von Bülow, der als Hofkapellmeister zwischen 1880 und 1887 die Meininger Hofkapelle zu einem Spitzenorchester formte und dann als Chefdirigent nach Berlin zu den dortigen Philharmonikern wechselte, die sich allerdings erst unter Bülow zu einem erstklassigen Klangkörper entwickelten. Das ist heute natürlich anders: Nach den Stationen Meiningen, Komische Oper Berlin und Bayerische Staatsoper München ist Petrenko nun endgültig auf dem internationalen Klassik-Olymp angekommen.
In Meiningen war es einer der gelungenen Schachzüge der damaligen Intendantin Christine Mielitz, den noch weitgehend unbekannten jungen Dirigenten 1999 als Generalmusikintendanten der Meininger Hofkapelle zu engagieren. Der gemeinsame Kraftakt von Mielitz und Petrenko, den Ring des Nibelungen von Richard Wagner 2001 an vier aufeinanderfolgenden Abenden aufzuführen, machte den Orchesterchef schlagartig international bekannt.
Nicht nur die Kühnheit des Unterfangens, auch die besondere Klangqualität der Aufführungen brachte Petrenko seinerseits begeisterte Kritiken ein. Seither wird er in den Feuilletons hochgeachtet, mitunter sogar verehrt, denn seine bedingungslose Hingabe an jedes einzelne von ihm dirigierte Orchesterwerk nötigt auch den Kennern immer wieder Respekt und Bewunderung ab.
Als von Bülow Ende des 19. Jahrhunderts aus der thüringischen Provinz in Meiningen in die damals noch junge Reichshauptstadt kam, fand er dort ein Orchester vor, in dem noch recht legere Sitten gang und gäbe waren. Es war von Bülow, der den Musikern verbot, während der Proben zu essen und zu trinken, auch das Rauchen hatte zu unterbleiben und das kleine Pläuschchen unter Kollegen ebenso. Von Bülow war berüchtigt für seine eiserne Disziplin, die er auch den Musikern abverlangte. Wie schon in Meiningen formte er das Berliner Orchester zu einem Ensemble von internationalem Ruf, das dem Dirigenten nicht mehr nur als Taktgeber, sondern als Interpreten eines Werks zu folgen verstand.
Um grundlegende Dinge wie einst von Bülow muss sich Petrenko bei seinem Amtsantritt in Berlin gewiss nicht mehr kümmern. Anders als sein Vorgänger Sir Simon Rattle, der sich in den 16 Jahren als Chefdirigent in Berlin omnipräsent um viele organisatorische und strukturelle Veränderungen bei den Philharmonikern kümmerte, hat Petrenko bereits angekündigt, sich ganz auf die Musik konzentrieren zu wollen. Er gibt seit vielen Jahren keine Interviews mehr, abgesehen von der Jahrespressekonferenz der Berliner Philharmoniker und Gesprächen mit einzelnen Musikern des Orchesters in deren Digital Music Hall.
Darin wirkt Petrenko in jeder Sekunde konzentriert, er wählt seine Worte sehr genau und erscheint doch überaus freundlich und zugewandt. Man kann sich gut vorstellen, dass die Musiker der Berliner Philharmoniker der Zusammenarbeit regelrecht entgegengefiebert haben.
Auch das Publikum in Berlin und weit darüber hinaus ist gespannt, welche Akzente der Nachfolger von unter anderen Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Herbert von Karajan und Claudio Abbado setzen wird. Mit Beethovens Neunter am Brandenburger Tor hat er sich wie keiner seiner Vorgänger mit Verve und Dynamik dem Berliner Publikum vorgestellt. Gleichzeitig hat er damit die Erwartungen und Hoffnungen sehr hochgeschraubt. Doch kaum jemand in der internationalen Klassikwelt zweifelt daran, dass Petrenko sie erfüllen wird.
Klaus Grimberg
ist freier Journalist in Berlin.