Originelle Antisanktionen: Das Gesprächsforum „Petersburger Dialog“ als Vorbild
Der Dekan der Wirtschaftsfakultät der Staatlichen Universität Moskau, Aleksandr Ausan, wagte einen Blick in die Zukunft: „Erfolgreich sind die Länder, in denen die patriotisch gestimmten Eliten über einen Horizont von 20 Jahren hinausblicken können“, sagte er. „Menschen unterscheiden sich im Allgemeinen nicht durch ihre Ansichten, sondern dadurch, wie weit diese reichen.“
Natürlich wäre Klarheit über 20 Jahre im Voraus nicht schlecht. Für die russisch- deutschen Beziehungen allerdings wäre wichtiger, heute Klarheit zu schaffen.
Eine der Diskussionsrunden des Petersburger Wirtschaftsforums Anfang Juni hatte dafür den passenden Titel: Was kann Russland vom neuen Europa erwarten? „Neu“ ist im Sinne einer veränderten politischen Landschaft zu verstehen, die das Schicksal ihrer etablierten Parteien in Frage stellt. Inzwischen bezichtigen die neuen Mitglieder der EU die alten: Wir haben das sozialistische Lager nicht beseitigt, damit ihr uns wieder sozialistische Werte aufzwingt, wie Erhöhung der Steuerlast und staatliche Umverteilung der Steuern.
Auch für Russlands Vertreter bei der EU, Wladimir Tschishows, ist Europa längst kein „strahlender Tempel“ mehr. Seine Stellung in der Welt könne es nur in Zusammenarbeit mit Russland behaupten.
Auf dem Wirtschaftsforum war öffentlich zu sehen, wie unterschiedlich die Positionen die Europäer in dieser Frage sind. Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó hat die Sanktionen gegen Russland beinahe verwünscht: „Es hat weder wirtschaftlich, noch politisch etwas gebracht. Und wie es stets in der Geschichte war, gehört Ungarn zu den Opfern im Konflikt zwischen West und Ost. Für Frankreich, Deutschland und Italien hat der Handel mit Russland trotz der Einschränkungen zugenommen, wir jedoch haben eine halbe Milliarde verloren.“ Dennoch hätte Ungarn immer für die Sanktionen gestimmt, wunderte sich die Moderatorin. „Wir wollten schlicht die Einheit der EU nicht untergraben“, so Szijjártó, „wir sind ein kleines Land und können nicht allen entgegentreten.“
Allem Anschein nach haben es die Befürworter der Sanktionen einfach nicht geschafft, nach St. Petersburg zu kommen. Zumindest gab es niemanden aus diesem Lager in der deutschen Delegation, deren Leiter, Wirtschaftsminister Peter Altmaier, und Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, davon gesprochen haben, dass die Sanktionen uneffektiv, nachgerade absurd seien, und das in einer Situation, in der die deutsche und die russische Wirtschaft nicht miteinander konkurrieren, sondern einander ergänzen sollten.
Interessanterweise hatte niemand unter den deutschen Gästen Zweifel daran, dass Nord Stream 2 fertiggestellt werde. „Wir kommen um die Pipeline nicht herum“, meinte Schwesig, „wenn wir bis 2030 aus der Kernkraft und der Kohle aussteigen wollen.“
Vielleicht jagt ja die eigene exportorientierte Wirtschaft den Deutschen Angst ein. Allerdings war dieses Mal in St. Petersburg ganz klar die Besorgnis zu vernehmen, dass Russland sich nach Osten wenden könnte. Der Unternehmer Peter Tille merkte an: „Russland hat sich dem Osten zugewandt, das ist für uns eine neue Realität.“ Minister Altmaier fügte hinzu: „Wir müssen uns dafür einsetzen, dass sich die junge russische Elite auf die Beziehungen zu Europa konzentriert.“
Unter den zwischen Russen und Deutschen geführten Diskussionsrunden, in die das Petersburger Forum aufgeteilt ist, gab es eine, in der Freundlichkeit und fehlende negative Untertöne einfach auffallen mussten. Es wurde versucht, eine Zwischenbilanz der Arbeit von drei gesellschaftlichen Dialogforen Russlands mit seinen europäischen Nachbarn zu ziehen.
Die Moderatorin der Diskussionsrunde, Jekaterina Trofimowa, Partnerin von Deloitte Touche, hatte führende Vertreter zusammengebracht, und zwar, vom Gesprächsforum „Petersburger Dialog“ den Vorsitzenden des Aufsichtsrates von Gazprom, Viktor Subkow, und das geschäftsführende Vorstandsmitglied des Deutsch-Russischen Forums Martin Hoffmann; vom Sotschi-Dialog Andrei Fursenko, persönlicher Referent des russischen Präsidenten, und den Ehrenpräsidenten der Wirtschaftskammer Österreichs, Christoph Leitl; vom Trianon-Dialog den Rektor der Moskauer Hochschule für Internationale Beziehungen und Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Anatoli Torkunow, und den ehemaligen französischen Botschafter in Russland, Pierre Morel.
Im Gespräch konnte Subkow viele Erfahrungen aus 18 Jahren Gesprächsforum „Petersburger Dialog“ weitergeben. Bis zu 30 Sitzungen finden im Jahr statt. Als Subkow und sein Kollege Ronald Pofalla die Leitung des Forums übernommen hatten, existierten lediglich fünf Arbeitsgruppen. Heute sind es doppelt so viele. „Bei der Auswahl der Diskussionsthemen und der geografischen Orte für die Tagungen der Arbeitsgruppen haben wir viel Freiheit. Und das ist wichtig“, betonte Subkow.
Was wirklich nicht zu unterschätzen ist, ist das Interesse der Jugendlichen aus den verschiedenen Ländern an dem jeweils anderen Land. Als der Trianon-Dialog in Frankreich einen Wissenswettbewerb über Russland veranstaltete, stellte sich heraus, dass nur einer der fünf Gewinner überhaupt jemals in Russland gewesen war. Das russisch-französische Dialogforum hat, wie Akademiemitglied Torkunow berichtete, sein eigenes passendes Format gefunden: Das vergangene Jahr war das Jahr der Städte der Zukunft, dieses Jahr ist das Querschnittsthema digitale Bildung.
„Wir müssen uns klar darüber sein“, erklärte Pierre Morel, „dass der politische Streit die guten Beziehungen zwischen unseren Gesellschaften nicht zunichtemachen darf.“ Die Kontakte der Zivilgesellschaften sind originelle Antisanktionen, die die Einheit Europas befördern. Es liegt auf der Hand, dass in nicht wenigen europäischen Ländern die Zeit für solche Kontakte mit Russland herangereift ist. Das Gesprächsforum „Petersburger Dialog“ könnte durchaus zu einem Labor werden, in dem den gesellschaftlichen Dialogforen derartige Technologien vermittelt werden.
Pavel Aprelev
ist Redakteur der russischen Tageszeitung *Kommersant*.