Dienstag, 03. Dezember, 2024

Virtueller Mauerbau: Der Plan für eine eigene russische Internet-Infrastruktur schürt Furcht vor schärferen Kontrollen im Netz

Von Mandy Ganske-Zapf

Russlands bisherige Kontrollarchitektur im Internet ähnelt einem Flickenteppich. Laut Berechnungen russischer Netzaktivisten sind aktuell mehr als 173 000 Webseiten auf sogenannten „schwarzen Listen“, worunter nicht nur die Seiten wahrhaft Krimineller fallen, sondern auch die unerwünschter Kreml-Kritiker. Netzdienstleister sind aufgefordert, diese Seiten dauerhaft zu sperren.

Doch das System weist Lücken auf. Die größte klafft bereits seit einem Jahr: so lange schon versucht die mächtige Medienaufsichtsbehörde vergeblich, den landesweit populären Messenger-Dienst Telegram zu blocken. Das anhaltende Scheitern vollzieht sich vor aller Augen, denn selbst Staatsbedienstete greifen weiter ungeniert darauf zu. Mit einem neuen Vorhaben könnte der Kreml dem nun beikommen – und zugleich das Rückgrat des russischen Internet-Segments völlig anders justieren.

Der Gesetzestext für ein „souveränes Internet“ soll die Weichen stellen. Die Duma hat ihn Mitte April durchgebracht und Präsident Wladimir Putin am 1. Mai unterschrieben. Genau genommen handelt es sich dabei um eine Änderung bestehender Mediengesetze, die im November 2019 in Kraft treten.

Das ausgegebene Ziel: Das russische Netz soll vor Cyber-Attacken aus dem Ausland geschützt werden. Einer der Initiatoren, Andrei Klischas, Mitglied im Föderationsrat und der Regierungspartei „Einiges Russland“, versichert gegenüber russischen Medien, das Gesetz solle Systemausfälle verhindern, sei es bei Bank- oder Ticketsystemen, für den Fall, dass das russische Internet von den zentralen Servern im Ausland gekappt würde. Sprich: im Notfall solle es autonom funktionieren, auch isoliert vom World Wide Web.

Offiziell entspricht das Vorgehen einer Defensivmaßnahme im Cyber-Kampf – der international zweifellos im Gange ist. Doch Kritiker befürchten eher mehr Internetkontrolle und -zensur nach innen. Strebt Russland eine great Firewall nach chinesischem Vorbild an? Für viele klingt genau das an und wirkt beängstigend. Noch vor wenigen Wochen trieb das in Moskau rund 15 000 Menschen auf die Straße. In einem Land, in dem regierungskritische Proteste stark in die Schranken gewiesen wurden, kam das einem öffentlichen Aufschrei gleich. „Hände weg vom Internet“, war eine Losung.

Was sich praktisch genau ändern wird, ist im Moment allerdings kaum abzusehen. Fakt ist lediglich, dass der Schutz vor Cyber-Attacken und mögliche schärfere Kontrollen nach innen technisch zwei Seiten derselben Medaille wären: Bislang sind die Provider dafür verantwortlich, angeordnete Websperren auf russischem Territorium umzusetzen – was oft verzögert und teils löchrig ausfällt, oder, wie der Fall des Telegram-Messengers zeigt, sehr gewieft ausgetrickst werden kann. Künftig sollen die Netzdienstleister mit einer vorgeschriebenen Technik aufrüsten, die bei Bedarf staatlich zentral geregelten Zugriff auf den Internetverkehr gewährt – einerseits zum Abtrennen des Netzes bei Bedrohungen von außen, andererseits aber auch zum Blocken von Seiten im Inland. Will der Kreml aus bisherigen Fehlschlägen lernen?

Fabian Burkhardt, Politikwissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, meint, das Vorhaben könne dazu dienen, sich mit DPI (Deep Packet Inspection) einer neuen Technik für das Blockieren von Seiten zu nähern. Erst im August vergangenen Jahres seien dafür entsprechende Anbieter getestet worden. Bislang laufen Websperren in Russland vor allem über IP-Adressen, während DPI gezielter und wesentlich invasiver funktioniert.

Mit dem Gesetz sieht Burkhardt noch ein anderes politisches Ziel eng verbunden: die Importsubstitution, wonach in der Wirtschaft ausländische Güter zunehmend ersetzt werden sollen. Mit Blick auf die Netz-Infrastruktur „eine der größten Triebfedern“, meint Burkhardt. Es gehe darum, Hard- und Software auszutauschen, „die früher stark von US-amerikanischer Seite kam, um sie durch russische, vielleicht sogar chinesische Produkte zu ersetzen“. Tatsächlich werden neue Vorgaben vorangetrieben, wonach etwa Behörden ausschließlich inländisch produzierte Ausstattung zu kaufen hätten.

Doch wie stark die Eingriffe ins russische Netz am Ende ausfallen, hänge von vielen Faktoren ab, schätzt Burkhardt. So stehe noch aus, die Cyber- Bedrohungen überhaupt erst zu definieren. Zunächst handle es sich um ein Rahmengesetz. „Noch 30 bis 40 Regierungserlasse sollen notwendig sein, um die Details auszufeilen.“

In der deutschen Politik wird die russische Debatte zu diesen Plänen unterdessen genau verfolgt. Dirk Wiese (SPD), Russland-Koordinator der Bundesregierung, teilte mit, man beobachte die weiteren Entwicklungen aufmerksam. „Für den Austausch unserer Gesellschaften wäre es natürlich ein großer Verlust, wenn der grenzüberschreitende Charakter des Internets in Frage gestellt würde.“

Technisch gilt das Vorhaben als höchst ambitioniert. Lokal soll es Versuchsläufe gegeben haben, doch steht die Entwicklungsarbeit für diese Art von russischem Intranet weitgehend aus. Für die genannten Zwecke soll bis 2021 auch ein eigenes nationales Domain Name System (DNS) entstehen, was ein weiteres Licht auf die internationalen Verwerfungen zwischen Russland und den USA wirft – weil es die Autorität der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation ICANN als globale Instanz für die Verwaltung von Internetadressen untergräbt. So ist Russland innen- wie außenpolitisch gerade im Begriff, neue Testfelder abzustecken.

Mandy Ganske-Zapf
ist Journalistin und schreibt über Russland, Internet und Gesellschaft.

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